Über die Qualität der Karl-May-Verfilmungen der 1960er Jahre kann man aus heutiger Sicht gut und gerne streiten. Keinen Streit dürfte es über die Tatsache geben, dass sich die "Winnetou"-Filme ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben. Jetzt hat sich RTL an eine Neuverfilmung der Klassiker gewagt. Am 25. Dezember lief Teil I des "Winnetou"-Dreiteilers. Kann das gutgehen?

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Fällt irgendwo der Name "Winnetou" dürfte bei den Nachkriegsgeborenen sicher sofort das Assoziationskarussell anspringen: Pierre Brice, Lex Barker, Old Shatterhand, Sam Hawkins, Karl May, Nscho-tschi, Mario Adorf, Mescalero-Apachen, Wilder Westen, Kroatien, Blutsbrüder, Silberbüchse, Henrystutzen, Uschi Glas, der junge Götz George, Silbersee, und so weiter und so fort.

"Winnetou", das ist für viele Deutsche nicht nur ein gewaltiges Stück Kindheitserinnerung, sondern auch die große Erzählung vom ewigen Kampf Gut gegen Böse, von Völkerverständigung, von Ehre und Loyalität – und natürlich von echter Freundschaft. Jetzt spielt RTL wieder Cowboy und Indianer.

Das ist eine große Last auf den Schultern, weil viele denken: Hoffentlich versauen sie es nicht. Da stellt sich natürlich die Frage, ob so ein Mega-Projekt einer Neuverfilmung gutgehen kann. Und um nicht lange um den heißen Speck mit Bohnen herumzureden: Ja, es kann. Und wie.

Erste Anzeichen, dass RTL es ernst gemeint hat, gibt ein Blick auf die Besetzungsliste: Wotan Wilke Möhring, Jürgen Vogel oder Milan Peschel lassen ahnen, dass man sich hier nicht einfach nur mit dem Namen "Winnetou" die Taschen vollmachen wollte. "Wir wollen den Geist der Geschichten an eine neue Generation weitergeben", erklärt Möhring dann auch in einem Interview. Wer Teil I gesehen hat, der wird ihm kaum widersprechen, dass das gelungen ist.

Karl May, ein Greenhorn trifft die Realität

Die Geschichte des ersten Teils ist dabei schnell erzählt. Amerikanische Ostküste in den 1860ern: Mit Redlichkeit im Herzen und Zuversicht in den Taschen reist ein Deutscher namens Karl May aus Sachsen nach Westen, um "Teil von etwas Großem" zu werden. Etwas Großes, das ist der Bau der Eisenbahnlinie, die die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen durchziehen soll. Im Lager der Eisenbahngesellschaft angekommen, merkt Ingenieur May schnell, dass er seinen Traum von einem besseren Leben gegen eine ebenso triste wie harte Realität verteidigen muss.

Vor allem der zornige Vorarbeiter Rattler (Jürgen Vogel) hat es auf das Greenhorn May abgesehen. Dessen gute Manieren und Ehrlichkeit sorgen immer wieder für Wutausbrüche bei dem hitzköpfigen Rowdy. Auf einem Landvermessungstrip im Apachen-Gebiet kommt es dann zu einem Scharmützel mit Indianern. Rattler und seine Bande, die eigentlich May beschützen sollten, fliehen und lassen den verletzten Grünschnabel zurück. Es folgt: Auftritt Winnetou.

Winnetou und Old Shatterhand: Best friends forever


Damit beginnt der Mythos von Winnetou und Old Shatterhand, den Blutsbrüdern. Oder wie man heute sagt: Best friends forever. Doch bis dahin ist es auch diesmal ein langer Weg und vor allem ein dreckiger. "Winnetou" im Jahr 2016 hat erst einmal nichts von verklärter Wild-West-Romantik. Hier ist der Dreck wirklich dreckig, ein Massaker wirklich ein Massaker und die Sprüche mitunter obszön.

In so eine Welt passt dementsprechend ein Old Shatterhand der 1960-Filme nicht hinein. Lex Barker spielte den Old Shatterhand damals als den großen blonden Superhelden, dem niemand etwas anhaben kann – von dem aber auch nichts Persönliches haften bleibt. Möhrings Old Shatterhand hingegen ist durch und durch Mensch. Zugegeben, einer mit einer beeindruckenden Geraden, aber doch immer ein Mensch.

Besonders bezeichnend dafür ist die Eingangsszene, als der unbedarfte Karl May in den Staaten landet und mit Kloß im Hals einen Stempel der Einwanderungsbehörde haben möchte. Als der Beamte ihn fragt: "Deutscher?", antwortet May kurz: "Jawoll!" - und bekommt seinen Stempel. So viel Unbürokratie hat der Sachse offenbar nicht erwartet und dementsprechend gelöst marschiert er aus der Behörde. Lex Barkers Old Shatterhand wäre in einer solchen Szene unvorstellbar gewesen.

Old Shatterhand boxt bei "SV Saxonia 1860"

Es ist genau diese eigene Handschrift, die die Neuverfilmung so gelingen lässt. Der Wilde Westen der 1960er-Filme war, wie man sich den Wilden Westen eben so in den 1960ern vorgestellt hat. Und der Wilde Westen der Neuverfilmung ist so, wie man sich den Wilden Westen eben 2016 so vorstellt.

In seinen schlechtesten Momenten – und die sind wirklich rar – bedeutet das die gleichen Klischees wie in den 1960ern, wenn sich etwa der ein bisschen überstilisierte Oberschurke von seinen Handlangern mit "Boss" anreden lässt.

In seinen guten Momenten – und davon gibt es reichlich – schwankt der neue "Winnetou" zwischen Naturphilosophie und realitätsnaher Gesellschaftskritik. Hier ist er "Der mit dem Wolf tanzt" näher als seinem eigenen Vorgänger. So ist der erste Indianer, den Karl May auf seiner Reise durch den Westen trifft, nicht etwa ein edler Naturmensch, sondern ein betrunkener Bettler am Bahnhof von Roswell.

Trotz aller Ernsthaftigkeit nimmt sich die Neuverfilmung aber auch Zeit für Humor. Bei seinem ersten unfreiwilligen Faustkampf im Saloon warnt der ehrenwerte May seinen Gegner der Fairness halber vorab: "Ich muss Sie darauf hinweisen, dass ich im Verein geboxt habe." Und als sein Gegner nach zwei trockenen Hieben bewusstlos zu Boden sackt, fügt May hinzu: "Ich hab ihn gewarnt. Ich bin Mitglied im SV Saxonia 1860."

Jetzt wissen wir auch endlich, woher Old Shatterhand seine Schmetterhand hat.


Sendehinweis:
"Winnetou – Eine neue Welt": Sonntag, 25. Dezember um 20.15 Uhr bei RTL
"Winnetou – Das Geheimnis vom Silbersee": Dienstag, 27. Dezember um 20.15 Uhr bei RTL
"Winnetou – Der letzte Kampf": Donnerstag, 29. Dezember um 20.15 Uhr bei RTL
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