Ein Mord mitten in der Öffentlichkeit, Dutzende Menschen schauen zu und doch stehen die Kommissare der "Tatort"-Folge "Die Wahrheit" nach den Zeugenaussagen mit leeren Händen da. Kann das wirklich sein? Wir haben mit einem Verhör-Experten über die Realität bei Zeugenvernehmungen gesprochen.
Es ist eine der beeindruckendsten Szenen des gestrigen "Tatorts", denn sie zeigt, wie mühsam Polizeiarbeit sein kann. Nach dem Mord an einem Familienvater in aller Öffentlichkeit befragen die Ermittler stundenlang Zeugen. Am Ende hängt Kommissar Leitmayr fünf verschiedene Phantombilder an die Pinnwand. Jeder Zeuge hat unterschiedliche Angaben zum Täter und zum Tathergang gemacht.
Nur ein Film-Dilemma? Kriminalhauptkommissar Dieter Bindig ist Verhörspezialist und hat mit uns über Zeugenvernehmungen gesprochen.
Herr Bindig, wie bereiten Sie sich auf eine Zeugenbefragung vor?
Das kommt darauf an, wie viel Zeit ich dafür habe. Ab und zu muss das spontan erfolgen, sodass ich überhaupt keine Zeit habe. In anderen Fällen versuche ich, mir ein Bild von der Person zu machen, die zur Vernehmung kommt. Zum Beispiel durch Informationen von früheren Ermittlungen.
Im gestrigen "Tatort" machten die Zeugen völlig verschiedene Angaben zum Täter und zum Tathergang. Ist das ungewöhnlich?
Nein. Es wird hier überspitzt dargestellt, aber unterschiedliche Aussagen zum Tathergang muss man sogar erwarten. Als Ermittler darfst du nicht davon ausgehen, dass durch eine Zeugenvernehmung ein realitätsgetreues Abbild von irgendeinem Ereignis entsteht. Man muss einfach das nehmen, was der jeweilige Mensch für sich gespeichert hat und hier hat eben jeder Mensch seine eigene Wahrnehmung. Wenn alle Zeugen die gleichen Aussagen machen, ist das sogar eher verdächtig. Das riecht dann nach Absprache.
Also achtet zum Beispiel der eine Zeuge mehr auf die Jacke, ein anderer dafür mehr auf das Gesicht?
Genau solche Details. Nehmen Sie nur den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Kinder können sich kleine Details besser merken und genauer beschreiben wie zum Beispiel einen Aufkleber oder eine Delle an einem Auto, können uns aber dafür die Automarke nicht sagen. Erwachsene wiederum achten eher auf solche Dinge.
Außerdem ist, wie gesagt, jeder Mensch anders. Der eine Mensch kann sich Gesichter gut merken, einem anderen ist die Marke der Jacke wichtiger. Hier durchläuft die Wahrnehmung quasi verschiedene Filter, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind.
Machen Zeugen auch Aussagen über Dinge, die sie gar nicht gesehen haben? Zum Beispiel, weil sie gerne der Polizei helfen würden?
Ja, auch damit gilt es zu rechnen. Da muss ein Polizeibeamter den Zeugen dann ab und zu darauf hinweisen, dass er sich nur auf tatsächlich Wahrgenommenes beschränkt. Er liest in der Zeitung von dem Fall, hört etwas im Radio, spricht mit dem Nachbarn – und schon muss es so gewesen sein, wie er es gehört hat. Dann denkt er schnell mal, dass er sich eben in der eigenen Wahrnehmung getäuscht hat und dass er das Geschehen so gesehen hast, wie es im Bericht in der Zeitung steht.
Im "Tatort" versucht Kommissar Batic deshalb noch am Tatort zu verhindern, dass die Zeugen miteinander sprechen, damit nicht jeder das Gleiche erzählt.
Das kann durchaus eine Taktik sein, ist in der Realität aber eher schwierig. Zeugen möglichst frühzeitig zu vernehmen ist wichtig, aber Zeugen noch vor Ort zu trennen, ohne zu wissen, was man überhaupt in Erfahrung bringen kann, ist eher unrealistisch.
Nun hat man als Ermittler, wie sie sagten, in der Regel unterschiedliche Aussagen. Wie bekommt man nun die Wahrheit heraus?
Das ist die große Kunst: das aus den Aussagen herauszufiltern, was am realistischsten ist. Wenn der Ermittler an einen Fall herangeht, hat er eine gewisse Arbeitstheorie. Die ist erst einmal nach allen Richtungen offen, aber er bekommt natürlich von verschiedenen Seiten Informationen, so dass sich eine gewisse Zielrichtung ergibt. Dann prüft er die Aussagen, inwieweit sie dazu passen. Wenn etwas nicht passt, wird es nicht passend gemacht, sondern in diese Richtung noch einmal geprüft.
Dabei gilt es, auch Irrwege in Kauf zu nehmen, um zu sehen, was auf keinen Fall sein kann. Man muss mittels Tatrekonstruktion prüfen, ob die Aussagen so stimmen können. Wenn etwas nicht auszuschließen ist, bleibt es erst einmal so stehen und dann muss eine Anpassung der Arbeitstheorie an die Aussagen erfolgen.
Welche Szenen bei Vernehmungen im Film lassen Ihnen als Mann der Praxis denn die Haare zu Berge stehen?
Wenn es um die rechtlichen Belehrungen geht. In 99 Prozent aller Krimis wären die Vernehmungen vor Gericht nicht verwertbar, weil die Zeugen nicht belehrt wurden. Die Regisseure sparen sich natürlich in Krimis diese Zeit, weil es ja sonst langweilig wäre. Schmunzeln muss ich auch bei den Vernehmungsörtlichkeiten.
Da ist immer ein karges Zimmer mit Tisch und dahinter die große Spiegelwand, hinter der die Kollegen stehen – so etwas gibt es nicht. Das sind eigentlich die Zimmer für eine Gegenüberstellung. So eine Spiegelwand hat bei einer Vernehmung überhaupt keinen Nutzen, sondern würde den Zeugen und mich eher ablenken.
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