"Sex Education" war immer schrill, bunt, divers und brach mit Tabus rund um Teenie-Sex. Dafür liebten Fans die Netflix-Serie. Doch in der letzten Staffel ist Schluss mit jugendlicher Unbekümmertheit; dafür gibt’s jede Menge Nachhilfe in Sachen Wokeness. Ist das noch progressiv – oder eher Stoff zum Fremdschämen?
Wer Gerüchte verbreitet, muss bezahlen, das Geld aus der Gossip-Kasse wird für wohltätige Zwecke gespendet: So sind die Regeln am Cavendish College. Die Schüler sitzen mit holzummantelten Tablets in der Klasse, gehen ansonsten hauptsächlich ihren Hobbys zur Selbstverwirklichung nach – und unterrichten sich gegenseitig darin, bessere Menschen zu werden. So hat etwa Abbi, rosa-blond gefärbte Queen der Schule, beschlossen, dass Gerüchte und Lästereien verbannt gehören.
Die hochgelobte Serie "Sex Education" rund um die sexuellen Identitätsfindungsprobleme einer Gruppe Teenager verlagert die vierte und letzte Staffel an ein Oberstufenkolleg irgendwo in der englischen Pampa. Cavendish College erinnert an einen Schul-Wunschtraum der Generation Z: Alles ist pastellfarben, die Schüler organisieren sich und ihren Stundenplan selbst, man achtet darauf, dass Müll in die richtigen Recycling-Behältnisse geworfen wird. Einzig der Aufzug funktioniert in diesem hypermodernen Schul-Szenario seltsamerweise nie.
Neue Schule, alte Charaktere mit ihren Problemen
An diesem wundersamen Hort des selbstbestimmten Erwachsenwerdens finden sich also die Hauptfiguren Otis, Ruby, Eric, Jackson und Aimee wieder, nachdem ihre alte Schule Moordale geschlossen wurde. In acht Folgen müssen ihre Handlungsstränge zu Ende gebracht werden, und, das wird von den ersten Minuten an klar: Sie sollen bitteschön alle zu sich selbst finden.
Bis die Charaktere das schaffen und ihre Teenie-Traumata hinter sich lassen können, ist viel los: So hat Otis mit seiner Fernbeziehung zu Maeve zu kämpfen, die für ein Austauschjahr in den USA ist; außerdem muss der Hobby-Therapeut feststellen, dass es an der neuen Schule bereits Konkurrenz zu seiner "Sex-Clinic" gibt – ein Mädchen namens O berät die Mitschüler erfolgreich zu Unterleibsproblemen, Sex-Ängsten und Beziehungssorgen.
Eric wiederum kämpft mit seiner Identität als schwuler Christ, Ruby tut sich schwer, Anschluss zu finden, Jackson sucht nach seinem biologischen Vater, Aimee kämpft nach einem sexuellen Übergriff damit, das Erlebnis zu verarbeiten.
Diverse neue Figuren
Die Serien-Gang hat also einiges zu tun – und das TV-Publikum muss gut aufpassen, um bei all den Konflikten noch hinterherzukommen. Zumal zusätzlich diverse neue Charaktere eingeführt werden, die ihren ganz eigenen Herausforderungen zu bewältigen haben.
Es geht um missbräuchliche Beziehungen, um Non-Monogamie, um toxische Positivität und natürlich viel um die Frage, wer welche sexuelle Identität für sich definiert. Hetero-Leute seien so "basic", also langweilig, sagt Transmann Roman in einer Szene, obwohl seine Freundin Abbi das Lästern ja eigentlich verboten hat. Der Satz spiegelt ganz gut wider, worum es der Serie geht: auf sämtliche Themen ein Schlaglicht zu werfen, die sich jenseits der üblichen Boy-meets-Girl-Trampelpfade herkömmlicher Teenie-Stoffe bewegen.
"Sex Education" verliert die Protagonisten aus den Augen
Doch so wichtig Repräsentation von Diversität in der Popkultur auch ist: Der letzten Staffel "Sex Education" geht über den Anspruch, so ziemlich jeden erdenklichen Coming-of-Age-Moment anzusprechen, inklusive versehentlich veröffentlichter Nackfotos, die Leichtigkeit verloren. Fans liebten die Serie für den frechen Ton, mit dem Sex-Tabus gebrochen wurden.
Jetzt fühlt es sich eher so an, als ob die Serienschreiber noch mal schnell auf einer Wokeness-Checkliste nachgeschaut hätten, welche Themen noch nicht abgehakt wurden: Umweltbewusstsein? Muss dringend noch rein! Unlust beim Trans-Pärchen? Hatten wir auch noch nicht! Asexualität? Lass uns einen Charakter reinschreiben, der sehr intelligent ist, aber Angst vor körperlicher Nähe hat!
Fürs Schicksal der Hauptfiguren tun die Nebenstorys wenig zur Sache. In hoher Frequenz werden all diese Geschichten abgehandelt und komplexe Lebensgeständnisse vorgetragen. Nebensächlich-heitere Dialoge finden so gut wie nicht mehr statt, jeder Satz muss mit tiefer Bedeutung daherkommen.
Ist Wokeness wichtiger als ein glaubwürdiges Drehbuch?
Bisweilen wirkt die Serie so, als seien schlicht sehr viele Tiktok-Videos aneinandergeschnitten worden, die mit plakativen Erkenntnissen um Aufmerksamkeit heischen. So wird etwa die Beobachtung, dass Mobbing für negative Stimmung sorgt, als tiefgründige Offenbarung verkauft. Ernsthaft? Bislang nahm die Serie ihre jugendlichen Charaktere ernst. Jetzt werden sie in der Naivität ihrer Erkenntnisse fast ein bisschen bloßgestellt.
Und so geht die Serie für die Fans ein wenig enttäuschend zu Ende. In einschlägigen Social-Media-Foren ist man sich einig im empörten Fazit: Das hat die Serie nicht verdient. Vielleicht liegt das maue Ende daran, dass "Sex Education" in einem seltsamen Konflikt stecken bleibt: Man will alles "richtig" machen und sämtliche Wokeness-Faktoren im Blick haben – gleichzeitig werden Gen-Z-Themen wie Umweltbewusstsein und Diversity so überzeichnet dargestellt, dass die Serie manchmal fast satirisch wirkt.
Aus progressiv wird so performativ: Themen einfach abzuhandeln, weil man meint, das muss so, um bloß keinen Shitstorm zu provozieren – und sich zugleich drüber lustig machen? Das kann nicht gut gehen. Und der Shitstorm ist trotzdem da.
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