• Für mehr als 168 Millionen Kinder weltweit sind seit fast einem Jahr die Schulen geschlossen.
  • Schulschließungen gefährden Bildungserfolge und verstärken soziale Ungleichheit auch in Deutschland.
  • Der Chef von UNICEF Deutschland fordert daher eine schnelle Öffnung der Schulen unter sicheren Bedingungen.
Ein Interview

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Seit einem Jahr bestimmt die Corona-Pandemie den Alltag von Milliarden Menschen weltweit. Fast drei Millionen Todesfälle hat COVID-19 bisher gefordert. Lockdown, Einschränkungen und Existenzkrisen treffen uns psychisch und physisch.

Die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche könnten noch über Generationen zu spüren sein: Monatelange Schulschließungen, Bildungsungleichheit sowie Wohn- und Familienverhältnisse haben drastische Folgen für Mädchen und Jungen in Deutschland und der ganzen Welt.

Wir haben mit Christian Schneider, dem Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, über die Konsequenzen der Pandemie für die Bildung von Kindern und Jugendlichen gesprochen.

Wie ist die Bildungssituation in Deutschland durch die Corona-Pandemie? Welche Kenntnisse haben Sie über Kinder aus beispielsweise bildungsfernen oder ökonomisch schwächeren Familien?

Christian Schneider: Die Corona-Krise stellt unsere ganze Gesellschaft auf eine schwere Probe. Doch die Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, vor allem die Schließung von Schulen und Kitas, treffen Kinder und Jugendliche besonders hart. Wenn Schulen wochenlang schließen und der Unterricht für die meisten Kinder größtenteils online stattfindet, kann dies nicht nur die Bildungserfolge von Kindern gefährden, sondern auch zu einer Verstärkung der Bildungsungleichheit führen.

Das betrifft vor allem Kinder, die beispielsweise von Armut betroffen sind oder in Flüchtlingsunterkünften leben, und führt dazu, dass sie noch mehr abgehängt werden, da sie zum Beispiel über kein digitales Endgerät verfügen, die Wohnverhältnisse prekär und zum Lernen ungeeignet sind.

Wenn wir über die Auswirkungen von Schulschließungen sprechen, geht es aber um mehr als um Lernrückstände. Schulen sind ja nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern auch wichtige Schutzräume und Orte des sozialen Miteinanders, des Austauschs und der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen. Besonders die Kinder und Jugendlichen, die ohnehin benachteiligt sind, weil sie Lernschwierigkeiten haben oder in ihrer Familie von Gewalt betroffen sind, leiden unter den Schließungen von Schulen und Kitas am stärksten.

Wie sieht die Situation international aus? 168 Millionen Kinder gehen noch immer nicht zur Schule – woran liegt das, was sind die größten Schwierigkeiten in den Ländern?

Die Situation der Kinder weltweit macht uns Sorgen. Ein Jahr, nachdem COVID-19 zur Pandemie erklärt wurde, zeichnet sich nun immer deutlicher ab, welche katastrophale Bildungskrise die weltweiten Lockdowns verursacht haben.

Für mehr als 168 Millionen Kinder weltweit sind seit fast einem Jahr Schulen vollständig geschlossen. 214 Millionen Kinder – oder eines von sieben Kindern – haben mehr als drei Viertel ihres Unterrichts verpasst. Mit jedem weiteren Tag bleiben die Kinder, die keinen Zugang zu direktem Unterricht haben, weiter zurück. Und die am meisten benachteiligten Kinder zahlen den höchsten Preis. Wenn Kinder mit einem weiteren Jahr Schulschließungen konfrontiert sind, werden die Auswirkungen über Generationen hinweg zu spüren sein.

Die Bildung der Kinder hat höchste Priorität. Schulen müssen aber unter sicheren Bedingungen wieder eröffnet werden – mit Zugang zu Handhygiene, sauberem Trinkwasser und sicheren sanitären Einrichtungen. 2019 hatten jedoch weltweit 43 Prozent der Schulen keinen Zugang zu Handhygiene mit Wasser und Seife – und das ist nun einmal eine Grundvoraussetzung, um inmitten der Pandemie sicher arbeiten zu können.

Panama, El Salvador, Bangladesch und Bolivien sind am stärksten betroffen. Warum gerade diese Länder und wie erreicht UNICEF die Kinder dennoch?

Ganz richtig, in Lateinamerika und der Karibik waren die meisten Kinder von den Schulschließungen betroffen. Doch auch in zahlreichen anderen Ländern gab es in großen Teilen des Jahres für Schülerinnen und Schüler keinen Präsenzunterricht. Die Gründe sind vielfältig und gehen teilweise auf regionale Gegebenheiten zurück – etwa auf die jeweilige Situation der Pandemie, die Strategien von Regierungen oder auch die Ausstattung der Schulen.

Schon kurz nach Ausbruch der Pandemie hat UNICEF überall auf der Welt nach Lösungen gesucht, damit Kinder und Jugendliche nicht den Anschluss verlieren und weiterlernen können. Unsere UNICEF-Kolleginnen und Kollegen weltweit haben da wirklich tolle Dinge angestoßen.

Zum Beispiel in Ruanda und Somalia, wo wir dabei geholfen haben, dass Kinder über das Radio unterrichtet werden. Das ist deshalb so wichtig, weil wir so die Kinder erreichen, die keinen Zugang zum Internet haben. In Nordmazedonien haben wir ein Bildungsprogramm fürs Fernsehen mitentwickelt. So konnten Kinder während des Lockdowns in fünf Sprachen unterrichtet werden: Mazedonisch, Albanisch, Türkisch, Serbisch und Bosnisch.

Und in der Ukraine, im Kosovo und in Timor-Leste in Südostasien hat UNICEF gemeinsam mit Microsoft und der University of Cambridge eine Online-Lernplattform entwickelt. Kinder und Eltern können dort Videos, Tonaufnahmen und E-Books zum Lernen abrufen. All das kann den "echten" Unterricht in der Schule nicht vollständig ersetzen. Zumindest aber kann der Fernunterricht helfen, Lücken zu schließen.

Wie muss man sich die Situation dieser Kinder vorstellen? Welche Schwierigkeiten begegnen ihnen, außer, dass sie Unmengen an Schulstoff verpassen?

Für die meisten Kinder weltweit sind Schulen zentrale Orte, an denen sie sicher und geschützt sind. Hier bekommen sie Unterstützung, werden medizinisch betreut und erhalten Impfungen sowie eine nahrhafte Mahlzeit. Auch der Austausch mit Gleichaltrigen in der Schule ist wichtig für junge Menschen. Mindestens eins von sieben Kindern weltweit hat den größten Teil des letzten Jahres zu Hause verbracht. Bei vielen Kindern kann das zu Angstgefühlen, Depressionen und einem Gefühl der Isolation führen.

Je länger Schulen geschlossen bleiben, desto länger bleiben Kindern wesentliche Elemente vorenthalten, die sie für ein gutes Aufwachsen brauchen, und desto größer ist das Risiko, dass Kinder nicht wieder in die Schulen zurückkehren. Weil sie beispielsweise früh verheiratet wurden. Prognosen deuten bereits jetzt darauf hin, dass bis zum Ende des Jahrzehnts zehn Millionen zusätzliche Kinderehen geschlossen werden könnten. Das geht unmittelbar auf die Pandemie zurück: Die Schließung von Schulen, wirtschaftliche Belastungen der Eltern, Unterbrechungen von Dienstleistungen oder in schlimmen Fällen der Tod von Eltern aufgrund der Corona-Pandemie – all das erhöht das Risiko für Kinder, früh verheiratet zur werden. Schulschließungen haben also nicht nur verheerende Folgen für die Bildung, sondern auch für das gesamte Wohlbefinden von Kindern.

Welche Programme von UNICEF gibt es, um die Auswirkungen abzufedern und was sind die Schwierigkeiten bei der Umsetzung?

In vielen Ländern der Welt arbeiten wir daran, dass Kinder und Familien vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt sind und dass Mädchen und Jungen weiterhin die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Das heißt, wir stellen Hilfsgüter bereit, die im Kampf gegen Corona besonders gebraucht werden, wie Seife, Desinfektionsmittel, Handschuhe und so weiter. Wir setzen uns dafür ein, dass Kinder weiter lernen können, und wir helfen, Lernangebote zu schaffen. Wir tun unser Möglichstes, Kinder zu schützen und durch diese Krisenzeit zu begleiten.

Doch erst, wenn das Virus weltweit besiegt ist, haben wir den Kampf gegen die Pandemie gewonnen. Deshalb arbeitet UNICEF gemeinsam mit Partnern daran, dass die begehrten Corona-Impfstoffe allen zur Verfügung stehen, auch Menschen in den ärmsten Ländern. Das ist auch eine Frage der globalen Gerechtigkeit. Im Rahmen der globalen COVAX-Initiative (COVID-19 Vaccines Global Access) hat UNICEF die Aufgabe, die Beschaffung und Lieferung von Impfstoffen insbesondere für 92 Entwicklungs- und Schwellenländer zu koordinieren. UNICEF ist weltweit der größte Beschaffer von Impfstoffen und kann auf viel Know-how und ein breites Netzwerk zurückgreifen.

Sie können sich vorstellen, welch immense logistische und organisatorische Herausforderung diese größte Impfkampagne aller Zeiten darstellt. Das lässt sich kaum ohne zusätzliche Unterstützung meistern. UNICEF benötigt in diesem Jahr 659 Millionen US-Dollar, um die Lieferung von Impfstoffen, Medikamenten und Tests zu unterstützen und dazu beizutragen, die Gesundheitssysteme zu stärken.

Was ist nötig, damit möglichst viele Kinder wieder zurück auf die Schulbänke kommen?

Zunächst einmal denke ich, dass keine Anstrengungen gescheut werden sollten, um Schulen offen zu halten beziehungsweise ihrer Wiedereröffnung Priorität einzuräumen. Die Vorteile, Schulen geöffnet zu halten, überwiegen die Nachteile von Schulschließungen – bei Beachtung der nötigen Schutzmaßnahmen selbstverständlich. Schulschließungen dürfen nur der allerletzte Schritt sein.

Wenn die Kinder dann in die Klassenzimmer zurückkehren, benötigen sie besondere Unterstützung, um sich wieder einzugewöhnen und den Lernstoff aufzuholen. Dazu brauchen wir ganz konkrete Maßnahmenpakete und umfassende Angebote, wie beispielsweise Nachhilfeunterricht oder in den Bereichen Ernährung oder Gesundheit – auch der psychischen Gesundheit.

Wir müssen darüber hinaus unsere Lehren aus der Pandemie ziehen und gerade im Bereich Bildung neue Wege gehen. Bildung "neu denken". Nicht nur hier bei uns, sondern weltweit. Dazu müssen die Mittel für Bildung aufgestockt werden und der gleichberechtigte Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung gewährleistet werden, damit jedes Kind lernen kann. Es ist notwendig, endlich die digitale Kluft zu schließen, damit alle Kinder und Jugendlichen bis 2030 Zugang zum Internet haben und durch sicheren und guten Online-Unterricht erreicht werden können.

Über den Gesprächspartner: Christian Schneider ist seit 1998 bei UNICEF Deutschland tätig, seit 2010 als Geschäftsführer. Zuvor hatte er von 2002 bis 2010 den Bereich Kommunikation und Kinderrechte geleitet. Er studierte Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik (M.A.) und war als Redakteur für die "Westfälischen Nachrichten" in Münster sowie als freier Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.
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