- Skisprung-Rekordsieger Gregor Schlierenzauer spricht im Interview mit unserer Redaktion über die anstehende Vierschanzentournee und hat dafür drei Favoriten.
- Der 32-Jährige bemängelt, dass im DSV-Team "zu wenig Leben drin" sei.
- Dagegen würde der Sieg eines Landsmanns ihm "extrem taugen".
Herr
Gregor Schlierenzauer: Mir geht es sehr gut, ich vermisse nichts. Denn ich habe den Schritt damals gut vorbereitet. Natürlich ist das Loslassen eine große Herausforderung, gerade weil es beim Skispringen ein kompletter Schlussstrich ist. Aber nun widme ich mich mit Freude den neuen Dingen in meinem Leben. Es ist schön, ein Leben nach dem Sport zu haben und ich mache viele neue Erfahrungen, die so in der 'Spitzensport-Bubble' gar nicht wahrgenommen werden können. Es ist schön, neue Dinge zu lernen, und auch ein schöner Prozess im Leben.
Wie sieht Ihr Leben ohne Sport im Moment aus?
Ich habe eine Ausbildung zum Immobilienmakler gemacht und habe daneben noch eigene Projekte betreut. Ich bin jetzt dabei, mein eigenes Unternehmen aufzubauen, eine sehr spannende Zeit. Nach dem Karriereende habe ich überlegt, was mir außer Sport noch Freude machen könnte und bin nun in diese Richtung unterwegs. Insgesamt gibt es also auch ohne Leistungssport im täglichen Leben genug zu tun. Mir ist in jedem Fall nicht langweilig geworden.
Schlierenzauer: "Mein Anspruch war es, immer Siege einzufahren"
Bei der Verkündung Ihres Karriereendes sagten Sie, dass die Entscheidung und der Zeitpunkt sich richtig anfühlen. Wie lange haben Sie damals darüber nachgedacht, das zu beenden, was bislang Ihr komplettes Leben bestimmt hat?
Meine letzte Saison war sehr herausfordernd, unter anderem durch meine Corona-Infektion. Diese Herausforderungen haben den Prozess beschleunigt. Im Februar hatte ich daher das Gefühl, dass ich nicht mehr die volle Energie habe, um alles dem Skispringen unterzuordnen.
Ich bin aber ein Mensch, der nach dem Motto "Ganz oder gar nicht" lebt. Mein Anspruch war es immer, Siege einzufahren und ganz oben zu sein. Das habe ich damals aber nicht mehr gespürt. Ich wollte mir dann Zeit über den Sommer geben. Diese Zeit habe ich genossen und nur wenig trainiert, wollte aber wissen, ob mein Ehrgeiz im August oder September wieder zurückkommt. Aber es hat sich nichts verändert. Da die Energie und die Liebe für den Sport nicht mehr zu 100 Prozent da waren und ich nicht mehr bereit war, dem alles unterzuordnen, habe ich beschlossen, meine Karriere zu beenden.
Haben Sie sich bewusst so lange Zeit genommen für die Entscheidung?
Der Sport hängt sehr viel mit Emotionen zusammen. 15 Jahre Leistungssport verändern einen Menschen im Körper und Geist. Aber im Sommer habe ich mir bewusst die Zeit genommen und einfach festgestellt, dass das Feuer für das Skispringen in mir nicht mehr brennt. Wenn man sich das eingesteht, ist es auch richtig, einen Schlussstrich zu ziehen.
Welcher Moment ist Ihnen aus Ihrer Karriere besonders in Erinnerung geblieben?
Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar für jeden einzelnen Moment meiner Laufbahn. Ich bin an jeder Herausforderung gewachsen, mehr als an den Siegen. Jede Herausforderung bringt einem mehr bei, als von Sieg zu Sieg zu eilen. Daher ist es für mich schwer, einen schönsten Moment auszuwählen. Ich hatte das Privileg einer äußerst erfolgreichen Karriere, durfte viel erleben. Auch die Zeiten voller Herausforderungen möchte ich nicht missen.
"Skispringen ist ein schwieriger Spagat"
Würden Sie ihrem jüngeren Ich rückblickend einen Ratschlag geben vor Beginn der Karriere?
Mit einem guten Jahr Abstand und weniger Druck stelle ich fest, dass ich von der Energie her ein anderer Mensch bin. Das ist beim Skispringen ein schwieriger Spagat zwischen geringem Körpergewicht und einer Menge Leistungsdruck. Ich bin ein besessener Typ, bin den Weg damals voll mitgegangen und ich habe sicher Jahre gehabt, wo ich zu wenig Erholung gehabt habe. Daher würde ich weitergeben, dass es wichtig ist, die Balance zwischen Spannung und Entspannung zu finden.
Verfolgen Sie aktuell die Entwicklung im Skispringen noch?
Einmal davon besessen gewesen, ist die Liebe zu dem Sport immer da. Es ist eine wunderbare Sportart. Was mich besonders interessiert ist die Frage, wer die Technik auf den Punkt bringt und wo die Entwicklung im Sport hingeht. Aber es ist auch schön, nach dem Wettkampf wieder das TV-Gerät auszumachen und keinerlei Druck oder ähnliches zu verspüren.
Wie bewerten Sie die bisherige Saison vor der Vierschanzentournee?
Es kristallisieren sich bisher zwei bis drei Springer heraus, die auf einem extrem hohen Niveau sind. Dahinter gibt es einige, die konstant sind und immer wieder vorne mitmischen. Danach folgt aber schon ein größerer Abstand. Der Sport an sich ist weiterhin sehr sensibel, was die äußeren Bedingungen angeht. Am TV-Bildschirm bekommt man das nicht so mit, aber ich weiß das aus der Erfahrung der letzten Jahre.
Schlierenzauer regt Veränderungen an
Was meinen Sie damit?
Ich bin kein Fan davon, dass man immer in den Wettkampf eingreift, indem man ständig den Startbalken nach oben und unten schiebt. Von meiner Außenwahrnehmung heraus sollte das Skispringen für den TV-Zuschauer wieder einfacher werden. Ich war immer ein Fan davon, dass die Emotionen im Sport bleiben, und im Skispringen geht es darum, wer am weitesten springt. Würde man einige Hebel verändern, unter anderem das Material, wäre auch der einzelne Sportler wieder etwas mehr im Mittelpunkt. Möglicherweise würden dann äußere Verhältnisse weniger eine Rolle spielen und der weiteste Springer könnte gewinnen.
Was trauen Sie den Springern aus Österreich bei der Tournee zu?
Stefan Kraft ist sicherlich der konstanteste Springer, aber für mich nicht der Topfavorit bei der Vierschanzentournee. Die starke Form von Manuel Fettner macht mir riesige Freude und ich denke, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er im stolzen Alter von 37 Jahren seinen ersten Sieg feiern wird. Das würde mir extrem taugen.
Wer sind für Sie die Favoriten bei der Tournee?
Natürlich ist der Weltcup-Führende Dawid Kubacki einer der Top-Anwärter. Dazu kommen noch Anze Lanisek und
Die deutschen Springer sind – im Unterschied zu den vergangenen Saisons - in diesem Jahr noch nicht ganz vorne dabei im Weltcup. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Ich kann das nur aus der Sicht eines TV-Zuschauers beurteilen, aber da kommt es mir von den Athleten extrem gesteuert vor. Mir ist zu wenig Leben drin. Es fehlt etwas an der Improvisation und daran, die Dinge 'einfach mal laufen lassen', wie wir in Österreich sagen. Natürlich ist es auch eine Philosophiefrage der Trainer und des Verbandes. Ich bin mir nicht sicher, ob im deutschen Team zu punktuell und zu gesteuert in Richtung der Ziele gearbeitet wird.
Schlierenzauer über DSV-Team: "Generell nicht auf den Punkt"
Ist es aus Ihrer Sicht nicht auch eine Chance als deutsches Team, mit weniger Druck und Aufmerksamkeit, den "Tournee-Fluch" zu beenden?
Die deutschen Springer sind nicht das erste Mal bei der Vierschanzentournee dabei, sondern konnten in den vergangenen Jahren bereits einige Erfahrungen sammeln. Darum sollten eigentlich Druck und die Erwartungshaltung weniger eine Rolle spielen. Ich glaube einfach, dass sie generell nicht auf den Punkt sind. Aber im Skispringen kann es ganz schnell gehen und auf einmal weiß man wieder, wie der Sprung funktioniert. Innerhalb von zwei, drei Sprüngen ist wieder alles super, das ist das Schöne beim Skispringen. In der Situation jetzt können sie nichts verlieren, nur gewinnen. Ich drücke ihnen die Daumen, denn für den Sport wäre es gut, wenn Deutschland gewinnen würde.
Werden Sie bei der Tournee ein Springen vor Ort anschauen?
Ich bin in Innsbruck dabei und habe große Freude daran, meine Ex-Kollegen zu sehen und die Skisprung-Familie zu erleben. Ich freue mich, in meinem Ex-Wohnzimmer als Zuschauer dabei zu sein.
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