Die angebliche Intersexualität von Caster Semenya überfordert die Verbände. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Ein Olympiasieg der Südafrikanerin dürfte die Diskussionen befeuern.

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Das Halbfinale ist für sie kein Stolperstein gewesen. Caster Semenya war vergangene Nacht über 800 Meter die schnellste Athletin. Kaum jemand zweifelt daran, dass sie auch das Finale (Sonntag, 2:15 Uhr) für sich entscheiden wird.

Bei der Weltmeisterschaft 2009 rückte Semenya in das Licht der Öffentlichkeit. Problemlos sicherte sich die damals 18-Jährige Gold. Danach erklärte der Generalsekretär des Weltleichtathletikverbandes IAAF, es gebe Zweifel an dem Geschlecht der Siegerin.

Tatsächlich war ihr Erscheinungsbild schon immer sehr männlich: Sie ist groß, hat kräftige Schultern und Oberarme, markante Gesichtszüge und eine dunkle Stimme. Auf den ersten Blick könnte man sie für einen Mann mit femininen Zügen halten. Die Wahrheit steckt wohl dazwischen: Caster Semenya soll eine Intersexuelle sein.

Intersexuelle Menschen können nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. Bei Semenya wird laut Medienberichten vermutet, dass sie eine Vagina, aber keine Gebärmutter hat. Dafür möglicherweise Hoden, die im Bauchraum liegen. Dadurch würde ihr Körper auf natürliche Weise große Mengen Testosteron erzeugen. Andere Athletinnen könnten dies nur mithilfe von Doping erreichen. Viele Experten gehen davon aus, dass die 25-Jährige im Finale einen neuen Weltrekord aufstellen wird.

Die Unklarheit über ihr Geschlecht sorgt für viel Wirrwarr. Man könnte auch sagen: Die Leichtathletik-Verbände sind im Umgang mit Intersexualität überfordert. Die Grundfrage lautet, welche Variante eher vertretbar ist: Eine Sportlerin wegen ihrem zweifelhaften Geschlecht auszuschließen oder andere Sportlerinnen gegen Semenya antreten zu lassen, die körperlich im Vorteil ist?

Medikamente zur Testosteronsenkung

Der Weltverband schien eine Lösung gefunden zu haben. Nach Aussetzung der 11-monatigen Sperre von Semenya wurde festgelegt, dass Frauen mit einem zu hohen Testosteronwert nur starten dürfen, wenn sie sich einer Therapie unterziehen.

Semenya musste Medikamente zur Reduzierung des Testosteronwerts einnehmen und war plötzlich nicht mehr die Überfrau. Bei der WM 2011 und Olympia 2012 gewann sie "nur" Silber. Das Problem schien gelöst.

Zumindest so lange, bis die indische Sprinterin Dutee Chand erfolgreich gegen die Regelung klagte und diese vorläufig ausgesetzt wurde. Seit Juli 2015 muss auch Semenya keine Medikamente mehr einnehmen. Zufall oder nicht: Seitdem läuft sie allen Athletinnen wieder davon.

Hängen die Leistungen von Semenya möglicherweise nur von ihrem Testosteron ab? Der südafrikanische Sportwissenschaftler Ross Tucker ist davon überzeugt. "Sie ist der Beweis dafür, dass intersexuelle Athletinnen von Testosteron profitieren", sagte er gegenüber der Wochenzeitung "Der Freitag".

"Männlich und weiblich nur Extrempunkte"

Die meisten körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, also die fettärmere Muskelmasse oder das größere Lungen- und Herzvolumen, seien auf Testosteron zurückzuführen. Demzufolge sei es kein Wunder, dass Semenya in der Zeit, in der sie die Medikamente einnahm, nicht mehr zwingend die Schnellste war.

Doch die Meinungen gehen auseinander. Der südafrikanische Sportjournalist Wesley Botton führt den damaligen Leistungseinbruch auf Semenyas Lebenswandel zurück. "Sie war weit weg von zu Hause, einer ländlichen Gegend im Norden Südafrikas und stand auf einmal im internationalen Rampenlicht. Dann überwarf sie sich mit ihrem alten Trainer und fing allem Anschein nach an, in der Hauptstadt Pretoria richtig Party zu machen", wird Botton von "Der Freitag" zitiert.

Mittlerweile steht der Sport wieder im Mittelpunkt. Sie wechselte den Trainer, begab sich in ein anderes Trainingszentrum, zudem ließ das Verletzungspech nach. Auch privat fand sie ihr Glück und heiratete ihre langjährige Freundin. Tatsächlich lässt sich nicht ausschließen, dass der Aufschwung von Semenya auch damit zu begründen ist.

Dr. Martin Bidlingmaier, Facharzt für innere Medizin, hat ohnehin wenig Verständnis für die Diskussion um Männlichkeit oder Weiblichkeit. Gegenüber "Spiegel Online" sagte er: "Aus hormoneller Sicht sind männlich und weiblich nur Extrempunkte. Alles dazwischen ist ein Kontinuum." Anders ausgedrückt: Die Weiblichkeit einer Frau kann von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt sein.

Der Fokus liegt auf Gold

Seine Schlussfolgerung: "Wenn eine Sportlerin als Frau aufgewachsen ist und sich als Frau fühlt, dann sollte sie auch als Frau Sport treiben können." Gut möglich, dass die hoffnungslos unterlegenen Konkurrentinnen das anders sehen.

Die Betroffene selbst äußert sich zu den Diskussionen nicht. Die südafrikanische Verbandssprecherin schirmt ihren Superstar in Rio bestmöglich ab. Auch nach ihrem erfolgreichen Halbfinale gab es nur ein kurzes Statement. "Ich bin nicht auf Weltrekorde fokussiert, ich will die Meisterschaft genießen und mit der Goldmedaille nach Hause fahren", wird sie auf "Eurosport.de" zitiert.

Ihr Olympiagewinn scheint unausweichlich zu sein – genau wie die vielen Diskussionen, die danach erst richtig an Fahrt aufnehmen werden.

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