Nach dem extremen Zeitspiel der AS Rom bei Bayer Leverkusen kam das Thema "Einführung einer Nettospielzeit" wieder auf. Wie ist da der Stand, was spricht dafür und was dagegen? Wir haben mit dem Schiedsrichter-Experten Alex Feuerherdt darüber gesprochen.

Mehr News zum Thema Fußball

Die nackten Zahlen überraschen dann doch. Möglicherweise auch Bayer Leverkusens Torhüter Lukas Hradecky. Denn der hatte nach dem Halbfinal-Rückspiel in der Europa League gegen die AS Rom von einer Nettospielzeit "von 25 bis 30 Minuten" gesprochen. Fakt ist: Laut UEFA rollte der Ball bei Bayer gegen die Roma netto 54 Minuten und zehn Sekunden lang.

Und das ist nicht einmal der schlechteste Wert der Europapokal-Halbfinalspiele. Fakt ist aber auch: Das extreme Zeitspiel der Italiener hat für jede Menge Diskussionen und Kritik gesorgt und dabei auch eine feste Nettospielzeit wieder zum Thema gemacht. Doch wie sinnvoll wäre die überhaupt?

"Ich kann verstehen, dass immer wieder Diskussionen aufkommen nach so einem speziellen Fall. Aber man sollte es an einzelnen Fällen nicht ausrichten. Das ist für mich nicht der Standard, der so eine Änderung rechtfertigen würde", sagt Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt im Gespräch mit unserer Redaktion.

Er findet zum Beispiel, dass der Fußball mit einer Nettospielzeit von rund 60 Minuten gut leben könne. "Der organisatorische Aufwand bei einer Nettospielzeit-Einführung wäre außerdem viel zu groß für den gewünschten Effekt. Stünde das im Verhältnis zum Ertrag? Ist das Problem mit dem Zeitspiel so gravierend und regelmäßig, dass es den Aufwand rechtfertigt?"

Was sagen die Zahlen?

Was sagen weitere aktuelle Zahlen aus den Europapokal-Halbfinals? Die "Total ball in play"-Zeit lag beim Rückspiel in der Champions League zwischen Inter und AC Mailand bei 49:45 Minuten, im Europa-League-Rückspiel zwischen dem FC Sevilla und Juventus Turin waren es 49:57 Minuten. Beim Rückspiel der Conference League zwischen Basel und Florenz waren es mit 52:04 Minuten auch nicht viel mehr.

Den Vogel schossen in positiver Hinsicht West Ham United und AZ Alkmaar in der Conference League ab. Im Hinspiel gab es 60:04 Minuten Nettospielzeit, im Rückspiel sogar 65:40 Minuten. Unter dem Strich wurde in allen zwölf Halbfinal-Spielen im Schnitt 55 Minuten und 50 Sekunden Fußball gespielt.

Weitere Zahlen aus dem März zeigen, dass die Ligen ähnlich aufgestellt sind. Der "Kicker" berichtet von FIFA-Berechnungen, die die Nettospielzeit in der Bundesliga bei 53:16 Minuten verorten, die spanische La Liga bei 53:42 Minuten, die englische Premier League bei 54:49 Minuten und die französische Ligue 1 bei 55:20 Minuten. Statistiken, die zeigen, dass in den Ligen definitiv noch Luft nach oben ist - und das Handlungsbedarf besteht.

Einige Gründe sprechen dagegen

Das International Football Association Board (IFAB), das die Regeln im Fußball festlegt, hat das Thema Nettospielzeit zuletzt auf einer seiner Tagungen diskutiert, sich aber trotz eines theoretischen Bedarfs aus verschiedenen Gründen dagegen entschieden.

Wie die "Sportschau" berichtet, sind die Abreise der Fans durch einen schlecht vorherzusehenden Abpfiff, kommerzielle Aspekte, die Belastung der Spieler je nach Festlegung der Nettospielzeit und die Umsetzung im Amateurbereich Argumente, die eine Einführung verhindert haben.

Dabei geht es auch darum, keine eigenen Regeln für den Profifußball einzuführen. Denn vor allem die Umsetzung im Amateurbereich sei eine echte Herausforderung, sagt Feuerherdt: "Wichtig ist, dass der Kern des Regelwerks einheitlich bleibt."

Immer höher, schneller, weiter?

Bei dem Punkt treffen dann auch verschiedenen Philosophien aufeinander. Und damit die Fragen: Will man das Spiel immer technischer machen, immer effizienter, immer perfekter? Oder überlässt man einen Teil den Wurzeln, den Ursprüngen? "Die Regeländerungen sind in den letzten Jahren vollzogen worden, um das Spiel zu beschleunigen, zuletzt wurde das sehr verschärft. Der Fußball hat sich dadurch auch sehr verändert", sagt Feuerherdt.

"Muss es immer weitergehen in Richtung Optimierung; schneller, höher, weiter, effizienter? Davon ist der Fußball sehr geprägt", sagt Feuerherdt. "Muss da sekundengenau abgerechnet werden? Braucht es noch eine Beschleunigung?" Es wird sicher genug Menschen geben, die sagen: Wenn man die technischen Möglichkeiten hat, warum nutzt man sie nicht? Andere Sportarten wie Handball oder Eishockey bekommen es ja auch hin.

Doch was oft vergessen wird: Es gibt Möglichkeiten, extremem Zeitspiel Herr zu werden und wirksam zu stoppen. Sie sind bereits im Regelwerk verankert, müssten aber konsequent durchgesetzt werden. Torhüter verstoßen zum Beispiel regelmäßig gegen die Sechs-Sekunden-Regel, tatsächlich geahndet wird das aber kaum bis nie. Seit 2019 sollen Spieler zudem bei einer Auswechslung das Spielfeld an der nächstgelegenen Linie verlassen. Doch wer macht das in der Realität?

Warum wird dann nicht wie bei der WM die Nachspielzeit konsequent durchgezogen? "Die Stimmungslage nach der WM war, dass es gut ist, dass es mehr Nachspielzeit gibt, aber extreme Varianten waren den Verantwortlichen zu viel", sagt Feuerherdt. Es gab in Katar kuriose Nachspielzeit-Auswüchse, dafür lag die Nettospielzeit im Schnitt aber auch bei knapp 60 Minuten. Nachgespielt wurden in der zweiten Hälfte im Schnitt siebeneinhalb Minuten. In der Bundesliga liegt die Nachspielzeit bei ungefähr fünf Minuten im Schnitt.

Ein Lerneffekt muss eintreten

"Es geht nicht nur darum, adäquat nachspielen zu lassen. Es geht auch darum, Maßnahmen zu ergreifen, damit das aufhört", sagt Feuerherdt. "Lasst einfach konsequenter nachspielen, dann gibt es nicht nur drei oder vier, sondern sieben oder acht Minuten obendrauf. Dazu ein stärkeres Durchsetzen von Regeln. Dann muss man als Schiedsrichter den Spieler auch mal verwarnen, wenn man merkt, dass er den Referee verarschen will. Das sollte eigentlich ausreichen."

Denn bei einer konsequenten Durchsetzung würde auch ein Lerneffekt bei den Spielern eintreten. Was wiederum wohl automatisch zu weniger Zeitspiel, Provokationen und Schauspielereien führen würde. Und damit zu einer höheren Nettospielzeit.

Über den Experten:
Alex Feuerherdt lebt in Köln und ist dort seit vielen Jahren verantwortlich für die Aus- und Fortbildung der Unparteiischen. Außerdem wird der 52-Jährige als Schiedsrichter-Beobachter in Spielklassen des DFB eingesetzt und arbeitet für den Verband auch als Schiedsrichter-Coach.

Verwendete Quellen:

  • sportschau.de: Nettospielzeit - warum sie im Fußball nicht kommen wird
  • kicker.de: Collina mahnt zu mehr Nachspielzeit - auch in der Bundesliga
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.