In meiner Jugend habe ich mehrmals sexualisierte Übergriffe im Stadion beim Männerfußball erlebt. Inzwischen gibt es Handlungskonzepte und Vereine, die sich dem Problem bewusst werden. Aber es braucht noch mehr.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Sonja Riegel (FRÜF) dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Als ich mich neulich durch alte Fußballfotos gewühlt habe, ist mir ein Bild von einer Auswärtsfahrt in die Hände gefallen: Bochum, Dezember 2003, meine Mitfahrerinnen und ich stehen vor dem Spiel im Gästeblock und wollen ein Gruppenfoto machen. Ein Mann mit Ultras-Shirt stellt sich dazu. Nun sind wir es als Gruppe junger Frauen gewohnt, dass sich Männer ungefragt in unsere Fotos drängen. Kurz darauf erfahre ich von der Fotografin des Bildes und denen, die eben nicht direkt neben diesem Typen standen, warum sie so angewidert und geschockt schauen: Er hatte sich die Hose heruntergezogen und sich neben uns entblößt.
Mir war es in der Situation selbst gar nicht aufgefallen. Wie gesagt: Es passierte zu der Zeit häufiger, dass man ungebetene Gäste auf Gruppenfotos hatte. Im Nachhinein haben wir uns in einer Mischung aus Belustigung und Grusel immer wieder davon erzählt. Ich erinnere mich sogar daran, dass wir ihn bei einer anderen Auswärtsfahrt irgendwo im Block als "den Nackten von Bochum" erspäht hatten - zusammen mit seinen Kumpels und natürlich angezogen. Und ich erinnere mich an den Struggle, den ich hatte, dieses Bild vor meinen Erziehungsberechtigten zu verstecken, um nicht Gefahr zu laufen, die Trips zum Männerfußball verboten zu bekommen. Denn ich war zu dieser Zeit noch minderjährig.

Mehr News zum Thema Fußball

Niemand hat den Kerl aufgehalten

Zwar habe ich aus der damaligen Situation keinen direkten körperlichen oder psychischen Schaden davongetragen und ich hoffe, dass es meinen Mitfahrerinnen genauso ging. Aber mit dem großen Abstand, den ich inzwischen dazu habe, bemerke ich, wie unglaublich problematisch das alles war. Hinter uns auf dem Bild stehen vereinzelte Typen, die zuschauen und grinsen. Niemand hat den Kerl aufgehalten, ihm eine Ansage gemacht, uns in irgendeiner Art beschützt. Wir haben ihn auf einem Foto festgehalten, sein Gesicht, sogar sein großes Tattoo am Arm, er war für uns Monate später in der Menge noch leicht zu identifizieren.

Und er hielt das offenbar alles für einen großen Spaß, obwohl sein Handeln faktisch sexuelle Belästigung und damit sogar strafrechtlich relevant war. Es ist erschreckend, dass mir das damals überhaupt nicht klar war. Es war an der Tagesordnung, dass gerade wir als Frauengruppe im Stadion auf die verschiedensten Arten von Männern genervt und angegangen wurden. Dieser Vorfall ist der krasseste, an den ich mich erinnern kann. Und die Erkenntnis ist tatsächlich übel: Man lief als 17-jähriges Mädchen im Jahr 2003 im Fußballstadion Gefahr, dass einem ein erwachsener Mann ungefragt seine hängende Spitze unter die Nase hielt - und niemand einschritt.

Ungefragt geküsst

Der zweite Vorfall, der mir noch sehr präsent ist, ereignete sich zu ähnlicher Zeit bei einem Spiel in Fürth. Auch hier stellten wir uns wieder zum Gruppenfoto auf, allerdings vor dem Stadion. Und, man ahnt es schon, wieder sprang ein Typ ungefragt mit ins Bild. Aber mehr noch: Er beugte sich zu mir rüber und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Auf dem entsprechenden Foto sieht man deutlich, wie ich angewidert das Gesicht verziehe. Auch hier haben ihn alle Anwesenden gewähren lassen. Die Belästigung ging schließlich im Stadion weiter: Wir standen am Rand einer der damals provisorischen Gäste-Tribünen, als er auf der angrenzenden Tribüne auftauchte und mehrfach Dinge wie "Lächel doch mal!" und "Du bist so toll!" zu mir rüberschrie. Alle Umstehenden kicherten, ich war peinlich berührt, niemand tat etwas. Das ging während des Spiels noch mehrere Male so. Auch hier gerne noch mal der Hinweis darauf, dass ich zu dem Zeitpunkt noch minderjährig war, der Täter (mutmaßlich) nicht.

Warum ich das erzähle? Weil die Diskussionen um den sexuellen Übergriff bei der WM-Siegerehrung sehr aufwühlend sind. Die von mir beschriebenen Fälle haben damit nichts und zugleich doch sehr viel zu tun. Denn es geht im weitesten Sinne darum, wie Männer den Fußball und das Fußballstadion für sich besetzt haben und glauben, dort mit Frauen umgehen zu können. Und es steht beispielhaft dafür, was Frauen im Stadion erleben und dass sicherlich so gut wie jede eine solche Geschichte erzählen kann.

Übergriffe müssen sanktioniert werden

Zur damaligen Zeit war mir nicht bewusst, was da genau passiert ist. Ich wusste nur, dass ich solche Dinge eben ertragen musste, um das zu tun, was ich immer wollte: Fußballspiele sehen. Die Situation hat sich inzwischen gebessert, aber ganz ausgeräumt ist das alles eben noch immer nicht. Das Problembewusstsein, das nun auch der für alle sichtbare Fall Luis Rubiales schafft, ist ein sehr wichtiger weiterer Schritt. An jeder Stelle im Stadion sollte ein Übergriff auch als solcher benannt und sanktioniert werden. Bitte tut das und schreitet ein - und macht die Situationen vor allem nicht noch schlimmer, in dem ihr Dinge herunterspielt oder verlacht. Frauen sollen sich nicht noch dafür schämen müssen, was Männer ihnen antun - was ich bei beiden besagten Übergriffen fälschlicherweise lange getan habe.

Es gibt noch viel zu tun

Übrigens: Inzwischen haben immerhin einige Vereine eigene Awareness-Konzepte für solche Vorfälle - zum Beispiel hat der SC Freiburg kürzlich sein "Schutzkonzept Fuchsbau" vorgestellt. Zudem hat das "Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt" bereits vor einigen Jahren eine Broschüre mit einem Handlungskonzept zu genau diesem Thema herausgegeben. Als ich neulich die Situationen von damals in einem Post bei Instagram geschildert habe, habe ich trotzdem Rückmeldungen von einigen Leuten bekommen, die davon berichteten, dass sie ähnliche Dinge noch immer im Stadion erleben oder grundsätzlich für möglich halten. Es gibt also noch viel zu tun.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.

Teaserbild: © IMAGO/osnapix/Hirnschal