Schiedsrichter Sascha Stegemann räumt in Interviews ein, dem BVB in Bochum zu Unrecht einen Elfmeter verweigert zu haben. Wie aber lässt sich dieser Fehler, den auch der VAR nicht vermeiden half, regeltechnisch erklären? Und warum ging der Referee nicht von sich aus in die Review Area?
Es ist das Schicksal der Schiedsrichter, dass gute Leistungen von ihnen oft gar nicht oder nur beiläufig gewürdigt werden, Fehler und zweifelhafte Entscheidungen dagegen oft genug zu heftigen Reaktionen führen, manchmal sogar zu Drohungen und körperlichen Angriffen.
Vor einer Woche brach der Unparteiische Nicolas Winter das Drittligaspiel zwischen dem FSV Zwickau und Rot-Weiss Essen ab, nachdem ihm ein Zuschauer in der Halbzeitpause aus kurzer Distanz gezielt den Inhalt eines Bierbechers ins Gesicht geschüttet hatte.
Nun stellte Winters Kollege Sascha Stegemann bei der Polizei eine Strafanzeige und einen Strafantrag, nachdem ihm und seiner Familie "sehr konkret gedroht" wurde, wie er in der Talksendung "Doppelpass" sagte.
Der Fifa-Referee aus Niederkassel bei Bonn hatte am Freitagabend das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Bochum und Borussia Dortmund (1:1) geleitet und war danach aus den Reihen des BVB scharf kritisiert worden. Aus Sicht der Dortmunder soll Stegemann drei gravierende Fehlentscheidungen getroffen haben.
Er habe vor dem 1:0 der Bochumer ein Foulspiel von Philipp Hofmann an
Nur eine der vom BVB kritisierten Entscheidungen ist klar falsch
Vor allem der Dortmunder Sportdirektor Sebastian Kehl wählte markige Worte bei seiner öffentlichen Kritik am Schiedsrichter: "Fahrlässig", "feige", "komplett falsch" und "beschämend" fand er dessen Entscheidungen, Stegemann "habe das Spiel entschieden und uns zwei Punkte gekostet". Darüber, dass der BVB selbst beste Chancen nicht genutzt hatte, redete Kehl nicht.
Der Unparteiische selbst äußerte sich am Freitagabend nicht, dafür aber umso ausführlicher an den beiden Tagen danach: Am Samstag gab er Interviews bei Sky, WDR2 und im ZDF-Sportstudio, am Sonntag stand er Rede und Antwort im "Doppelpass".
Sascha Stegemann räumte unumwunden ein, dass er den Einsatz von Danilo Soares gegen Adeyemi als Foulspiel hätte bewerten müssen, statt weiterspielen zu lassen, und dass Video-Assistent Robert Hartmann aufgrund dieser Fehlentscheidung ein On-Field-Review hätte empfehlen müssen.
Der Referee wies jedoch auch zu Recht darauf hin, in den anderen beiden von den Dortmundern monierten Situationen zumindest vertretbare Entscheidungen getroffen zu haben: Den leichten Impuls von Hofmann gegen den Rücken von Can musste man nicht als Foulspiel bewerten, und Mašovićs Handspiel geschah, als der Bochumer seinen Arm nutzte, um sich beim Tackling abzufangen und am Boden abzustützen. Eine solches Handspiel ist nicht strafbar.
Wie und warum kamen Schiedsrichter und VAR zu ihrer Fehleinschätzung?
Warum aber sah Stegemann in Danilo Soares‘ ziemlich ungestümem Tackling gegen Adeyemi keine Regelwidrigkeit, und warum griff der VAR nicht ein?
"Meiner Wahrnehmung nach war es so, dass Adeyemi den Fuß rausstellt und versucht, diesen Kontakt zu initiieren, den Elfmeter ein Stück weit zu suchen und dabei über den Bochumer Verteidiger drüber fällt", sagte der Schiedsrichter gegenüber Sky. Deshalb habe er weiterspielen lassen.
VAR Robert Hartmann habe diese Entscheidung überprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nicht klar und offensichtlich falsch war. Deshalb habe er auch nicht interveniert. Mit anderen Worten: Hartmann konnte mit Stegemanns Sichtweise leben, was verständlicherweise auch neutrale Beobachter verwunderte.
Etwas besser versteht man das scheinbar Unbegreifliche, wenn man einen bestimmten Aspekt der Regelauslegung kennt: Stellt nach Ansicht des Unparteiischen ein Angreifer sein Bein im Zweikampf nicht deshalb deutlich heraus, um den Ball abzuschirmen, sondern weil er vielmehr darauf spekuliert, dass der hinter ihm positionierte Gegner einen Schritt oder ein Tackling zum Ball unternimmt und dabei den Angreifer trifft, dann soll das vom Schiedsrichter nicht als Foulspiel bewertet werden.
Tatsächlich ließ sich zuletzt immer häufiger beobachten, dass Stürmer auf diese Weise versuchen, einen Kontakt zu "ziehen", um danach zu Boden zu gehen.
Weshalb ging der Unparteiische nicht von sich aus an den Monitor?
Im Zweikampf zwischen Danilo Soares und Adeyemi lagen die Dinge jedoch anders, wie auch der Referee erklärte: Der Bochumer sei mit einigem Risiko und sehr unkontrolliert in den Zweikampf gegangen. "Das Argument, das überwiegt, ist, dass er nicht den Ball spielt und der Kontakt schließlich entgegen meiner Wahrnehmung nicht von Adeyemi hergestellt wird, sondern von dem Verteidiger", so Stegemann.
Tatsächlich hat Danilo Soares seinen Gegenspieler mit Anlauf von den Beinen geholt, und man konnte Adeyemi hier sicherlich nicht unterstellen, diesen Kontakt initiiert zu haben. Deshalb hätte es, wie Sascha Stegemann deutlich sagte, einen Strafstoß für den BVB geben müssen.
Da es aber keinen Elfmeter gab und auch der Eingriff des VAR ausblieb, stellte sich die Frage: Hätte der Schiedsrichter nicht aus eigenem Antrieb an den Monitor gehen und sich die Szene noch einmal anschauen können und sollen, wie die Dortmunder es befürworteten?
Regeltechnisch kann der Unparteiische ein On-Field-Review auch aus eigener Initiative durchführen. "Dafür brauche ich jedoch berechtigte Zweifel an meiner Entscheidung", so Stegemann, "und die hatte ich in dieser Situation nicht".
Er habe "eine klare Wahrnehmung zu dem Vorgang" gehabt, es hätten "keine Indizien für die Bewertung" gefehlt. Auch "die Proteste auf dem Spielfeld waren verhältnismäßig moderat". Deshalb habe er davon abgesehen, sich die Szene noch einmal anzuschauen.
Seine Offenheit muss man Stegemann hoch anrechnen
Das Argument mit den Protesten führte vor allem in den sozialen Netzwerken dazu, dass viele fragten, ob man damit nicht ein Verhalten herausfordere, das man besonders als Schiedsrichter doch eigentlich ablehnen müsse. Dieser Einwand scheint zunächst logisch und begründet zu sein.
Stegemann hatte bei seiner Aussage allerdings etwas anderes im Sinn: Wenn ein Protest außergewöhnlich heftig ausfällt, kollektiv-spontan und geradezu eruptiv ist sowie auf eine Art vorgetragen wird, die sich von den üblichen Reklamationen deutlich unterscheidet und offenkundig nicht choreografiert ist – dann kann das für den Schiedsrichter ein Indiz dafür sein, dass er sich in der Bewertung eines Vorgangs klar geirrt oder etwas Entscheidendes übersehen hat.
Es ist Sascha Stegemann hoch anzurechnen, dass er sich in einer emotionalisierten Diskussion mit schrillen Tönen, die vor allem in den sozialen Netzwerken einmal mehr über jedes erträgliche Maß hinausgingen, so ausführlich, klar und offen geäußert hat. Er hat einen Fehler eingeräumt, bedauert und analysiert, zudem hat er Verständnis für die Wut der Dortmunder gezeigt.
Wie belastend die Situation dabei für ihn selbst ist, war ihm anzumerken, zumal nach den Drohungen gegen ihn und seine Familie. Deshalb ist es gut und wichtig, dass BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke in einer Erklärung zur verbalen Abrüstung aufgerufen und deutlich gemacht hat: "Anfeindungen jeder Art, Verunglimpfungen oder Drohungen, sei es persönlich oder anonym über Social-Media-Kanäle, können wir – aller Enttäuschung zum Trotz – nicht einmal im Ansatz tolerieren."
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