Charles Leclerc galt immer als kommender Weltmeister, als derjenige, der Ferrari erstmals seit 2007 wieder den Titel bescheren kann. Der Mann der Stunde ist aber seit Wochen Carlos Sainz. Läuft er Leclerc bei den Roten den Rang ab?

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In Italien gibt es meist nur schwarz oder weiß, wenn es um die "Roten" geht. Denn Ferrari ist in der Heimat eine Religion, ein Mythos, ein Formel-1-Rennstall, der Millionen emotional berührt und bewegt. Bedeutet konkret: In schlechten Zeiten geht die Welt der Tifosi krachend unter, in guten Zeiten werden dafür die Lobeshymnen hingebungsvoll geschmettert. Carlos Sainz dürfte sie im Moment ganz besonders genießen, denn sie gelten ihm. Er ist nach seinem Sieg beim Rennen in Singapur der Mann der Stunde. Nicht nur bei den Anhängern, sondern auch in den Medien.

"Matador und schlauer Fuchs: Sainz entpuppt sich als Taktik-Genie", meinte Tuttosport. "Sainz feiert ein Meisterwerk und beweist sich als genialer Stratege. Er ist intelligent wie Niki Lauda und schlau wie Alain Prost. Bis gestern war Sainz ein solider und zuverlässiger Pilot, seit Singapur ist er ein Champion", schrieb die Gazzetta dello Sport. Sainz ein Champion? Wie Lauda und Prost? Ist das nicht etwas übertrieben? Und was ist mit Charles Leclerc, der einst so großen Ferrari-Hoffnung? Hat Sainz dem talentierten Monegassen den Rang abgelaufen?

Zahlen untermauern starke Leistung von Sainz

Nun, Zahlen lügen in der Regel nicht. Deshalb zeigt der Blick auf die WM-Wertung recht deutlich: Die Nummer eins bei Ferrari heißt im Moment Sainz. Der Spanier steht nach 15 Rennen bei 142 Punkten, er ist damit Gesamtfünfter. Hinter ihm belegt Leclerc mit 123 Zählern Rang sechs.

Was bei einem weiteren Blick zudem auffällt: Sainz ist erstaunlich gut aus der Sommerpause gekommen. In Zandvoort landete er als Fünfter, in Monza als Dritter und in Singapur als Sieger stets vor Leclerc. Das gilt auch für die Qualifyings, eigentlich eine Spezialität Leclercs. Sainz beeindruckte dabei mit zwei Pole Positions in Folge, in Singapur die Grundlage für den Sieg und den Umstand, dass Leclerc ihm helfen musste – der Kronprinz als Wasserträger. Und wie Sainz in der Schlussphase seinem Verfolger Lando Norris im McLaren DRS ermöglichte, um die schnelleren Mercedes dahinter in Schach zu halten, war eine taktische Meisterleistung. "Fantastisch" sei der 29-Jährige momentan unterwegs, sagt Ferrari-Teamchef Fred Vasseur. Weshalb man den 80er-Jahre-Hit "Smooth Operator", Sainz‘ Markenzeichen an guten Tagen, nun wieder öfter am Funk hört.

Gespräche in der Sommerpause

Doch wie kommt es, dass Sainz seit der Sommerpause offenbar eine Wandlung durchgemacht hat? Druck scheint dem Spanier nichts mehr anhaben zu können, und konstant agiert er auch. Wie es scheint, hat er einen Hebel gefunden, der bei ihm noch einmal für einen Schub gesorgt hat. Der Sohn der Rallye-Legende Carlos Sainz senior ist seit 2021 bei Ferrari, und eigentlich gilt er seitdem als Nummer zwei, auch wenn es offiziell keine Aufteilung unter Leclerc und Sainz gibt. Doch Sainz agierte wie eine Nummer zwei – er war loyal, schnell, aber eben auch fehlerhaft, inkonstant. Ein überdurchschnittlicher Siegfahrer, aber kein Champion. Er stand immer im Schatten seines Teamkollegen.

Doch es hat sich etwas getan: Es hat bei ihm offenbar "Klick" gemacht. "Was das Verständnis für das Auto und das Fahren angeht, hatten wir vor der Sommerpause schon ein gutes Gefühl", sagte Sainz, der verrät, dass er sich in der Sommerpause mit seinen Ingenieuren zusammengesetzt hat: "Und wir haben gesagt: "‚Okay, was können wir tun, um das ganze Wochenende zusammenzubringen?‘ Denn wir haben eindeutig eine gute Pace, wir haben ein paar gute Dinge gemacht, aber wir haben nie das Ganze zusammengebracht", sagte er.

Das Motto lautete laut Sainz also: "Lasst uns sehen, was wir tun können, um das zu verbessern und in der zweiten Hälfte konstante Leistungen zu zeigen, denn das Potenzial ist dieses Jahr eindeutig da." Inzwischen nutzt er es immer besser aus. "Es macht mich sehr glücklich und stolz, wenn man arbeitet, analysiert und auch den Speed hat, wie ich ihn an diesem Wochenende hatte. Es zahlt sich immer aus, und jetzt haben wir es geschafft, alles unter einen Hut zu bringen", sagte Sainz.

Wachablösung bei Ferrari?

Die große Frage: Was bedeutet das alles für den Japan-GP am kommenden Wochenende in Suzuka? Und die Rennen danach? Und ganz generell für das Gefüge bei Ferrari? Findet dort gerade eine Wachablösung statt? Die aktuelle Gemengelage heiße "noch lange nicht, dass er jetzt Charles Leclerc abgelöst hat", stellt Sky-Experte Timo Glock in seiner Kolumne klar: "Bei Ferrari gibt es ja keine klare Nummer eins, beide Fahrer agieren meiner Meinung nach auf Augenhöhe."

Sainz selbst geht davon aus, dass er den Moment genießen sollte und bald wieder Red Bull Racing und Max Verstappen den Vortritt lassen muss. Er sei unglaublich stolz auf die Anstrengungen, die das Team unternommen habe, so Sainz, "aber ich denke, dass es immer noch harte Wochenenden geben wird, an denen wir nicht um Podiumsplätze kämpfen, sondern Platz fünf oder Platz sechs erreichen werden. Wir müssen einfach sicherstellen, dass wir diese Plätze weiterhin erreichen, wenn dies das Maximum ist, was das Team und das Auto an diesen Wochenenden leisten können", sagte er.

Unter Druck geliefert

Und wollte dann noch etwas betonen. Etwas, auf das er noch stolzer ist als auf den bloßen Sieg: "Dass wir in diesem Jahr eine Chance auf den Sieg hatten, und das Team hat unter Druck geliefert. Auch ich habe geliefert, und es ist uns gelungen, aus der einen Chance, die uns Red Bull und die Situation gegeben haben, ein perfektes Wochenende zu machen. Was für die Fortschritte spricht, die Ferrari und wir machen." Weshalb die emotionalen Lobeshymnen vielleicht nicht ein wenig übertrieben, sondern sogar berechtigt sind.

Verwendete Quellen:

  • Pressekonferenz, TV-Übertragung
  • Sky.de: Glock Kolumne - "Deswegen muss Mick stark bleiben"
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