Eltern haben es gern, wenn sich ihre Kinder möglichst immer vertragen. Dabei streiten Eltern untereinander ja auch. Sie übersehen, dass Konflikte für die Entwicklung des Kindes wichtig sind. Ein Experte sagt: Wenn Kinder zanken, mischen sich Eltern oft zu schnell ein - oder gar nicht, obwohl sie sollten.
"Kinder, streitet euch doch nicht!" Wenn Sie Eltern sind, haben Sie diesen Satz höchstwahrscheinlich schon einmal gesagt. Oder Tausend Mal. Weil er ja wahre Wunder tut und jeden Zoff sofort beendet?
"Mit diesem Satz bewirken Sie schon etwas", sagt Bernhard Juchniewicz und schmunzelt, "aber das Gegenteil von dem, was Sie wollen. Es ist wie mit dem Satz 'Denk nicht an einen weißen Elefanten!'. Woran denkt man? An einen weißen Elefanten", erläutert der Erziehungswissenschaftler und Präsident des Bunds Deutscher Diplom-Pädagogen (BDDP) in Düsseldorf.
Mit dem Satz zeige man den Kindern, dass man den Streit wahrnehme: Das Kind hat die Aufmerksamkeit - und damit ein Ziel erreicht.
Denn die Aufmerksamkeit der Eltern zu erlangen, ist eine der häufigen Streitursachen unter Geschwistern: "Und Ihre Aufmerksamkeit hat Ihr Kind nun - wenn auch die negative. Streiten wird durch den Satz, durch das Verbot, erst richtig attraktiv."
Beim Streiten lernen Kinder wichtige Kompetenzen
Kinder können laut Juchniewicz spielerisch Kompetenzen entwickeln, die wichtig für das ganze Leben sind. Dazu gehören Empathie, Wertschätzung, soziales Verhalten, Toleranz, Respekt, Nächstenliebe, Fürsorge und Mitgefühl.
Was für Eltern manchmal schwer zu ertragen ist - das scheinbar ewige Zanken, der Unfriede -, erfüllt einen wichtigen Sinn. "Eigentlich müsste man sagen: Streitet euch gut, damit ihr eure Unterschiede versteht", erklärt Juchniewicz.
Warum Streit unter Geschwistern aus pädagogischer und psychologischer Sicht wichtig ist:
- Im Streit lernen Kinder, Konflikte auszuhalten
Wer als Kind nicht gelernt hat, sich auseinanderzusetzen, wird spätestens in der Berufswelt große Probleme haben. "Streiten muss man lernen! Sonst sind Konflikte schwer zu ertragen", sagt Juchniewicz.
Andernfalls sei das Risiko später groß, "etwa aufgrund von Konflikten im Job unter Bluthochdruck oder sonstigen psychosomatischen Beschwerden zu leiden", erklärt der Experte.
- Im Streit lernen Kinder Sozialverhalten
"Das Kind erlernt in frühen Konfliktsituationen auch, sich fair auseinanderzusetzen", analysiert er weiter.
Hier sei das Eingreifen der Eltern entscheidend: "Sich zu zanken und auszutauschen ist das eine, aber Streit darf nie menschenverachtend oder grenzüberschreitend sein."
Ganz wichtig sei auch die Erfahrung, sich wieder versöhnen zu können. Juchniewicz: "Ein Kind, das nie streiten gelernt hat, kann es nicht wertschätzen, wenn man sich wieder versöhnt."
- Im Streit erwerben Kinder emotionale Kompetenz
Beim Streiten geschieht sehr viel auf der nonverbalen Ebene: Man kommuniziert, aber das Wenigste davon wird in Worten ausgesprochen.
Das Kind lerne, die Emotionen des anderen zu deuten und entsprechend darauf zu reagieren: Was geht im anderen vor? Wie klingt seine Stimme? Wie reagiert er? Hat er Angst?
"Wir nennen das 'emotionale Kompetenz'. Und sie zu erlernen, ist von unschätzbarem Wert für das ganze Leben", erläutert der Pädagoge.
- Kinder lernen: Jeder Mensch ist anders
Die Streitkultur in der Familie prägt ein Kind nachhaltig und auf vielen Ebenen. "Es ist wichtig für das Kind zu sehen: Hier leben fünf Menschen, die vollkommen unterschiedlich sind. Hier herrschen womöglich fünf verschiedene Ansichten, wir haben unterschiedliche Geschmäcker - und das ist gut und wichtig."
Aus Juchniewicz' Sicht wird dadurch die Basis gelegt für Respekt und Toleranz sowie für ein multi-kulturelles Verständnis - für die Andersartigkeit von siebeneinhalb Milliarden Menschen auf der Welt.
Häufige Fehler: Eltern greifen zu schnell oder gar nicht ein
Bei seiner Tätigkeit als Familientherapeut und Mediator beobachtet Juchniewicz, dass Eltern oft unüberlegt in Konflikte eingreifen.
"Eltern haben zu wenig Vertrauen in ihre Kinder: Sie können sich durchaus gemeinsam einigen! Es ist wichtig, dass Kinder lernen, Konflikte zu durchleben mitsamt aller Wut, Trauer, Zurückweisung – und am Ende auch: sich zu entschuldigen", sagt Juchniewicz.
Den weitverbreiteten Ratschlag, Eltern sollten Streitigkeiten der Kinder ignorieren und sich prinzipiell raushalten, hält der Experte für falsch: "Als Eltern hat man eine hohe Verantwortung für das Menschenbild, das die Kinder entwickeln. Eltern müssen im Blick haben: Verhält mein Kind sich egoistisch? Sozial? Fair? Und sie müssen, wo nötig, lenkend eingreifen."
Beispiele für Fälle, in denen Eltern unbedingt einschreiten sollten:
- Ein Kind verhält sich nicht sozial, will zum Beispiel nicht teilen
- Ein Kind überschreitet eindeutig Grenzen, indem es schlägt oder tritt
- Eines der Kinder zieht immer den Kürzeren
- Ein Kind weiß sich nicht zu wehren
- Einem Kind geschieht ein großes Unglück
Auf die Emotionen des Kindes einlassen
Wenn Eltern sich einschalten - sei es schlichtend oder tröstend - beobachtet Juchniewicz häufig: Es fällt vielen Erwachsenen schwer, sich auf den emotionalen Zustand des Kindes einzulassen.
Zu sagen "Der hat dich doch nur geschubst, war doch nicht so schlimm", sei in dem Moment nicht hilfreich.
"Für das Kind geht gerade eine Welt unter, weil es zutiefst gekränkt wurde. Und nun fühlt es sich noch dazu unverstanden", sagt Juchniewicz. "Ich helfe dem Kind nur, indem ich wirklich mitfühle - nicht, indem ich Emotionen vortäusche."
Das aufrichtige Mitfühlen sei durchaus eine Herausforderung. "Eltern befinden sich heute oft in schwierigen Arbeits- und Lebenssituationen. Sie sind vielleicht gerade gehetzt, haben andere Sorgen, und so fehlt ihnen im entscheidenden Moment oft die Zeit und Geduld, sich auf die Welt des Kindes einlassen. So etwas spürt ein Kind aber ganz genau."
Was es auch spüre, und was ihm in dem Moment Trost und Sicherheit gebe: "Wenn wir ihm sagen: 'Ich verstehe dich. Ich habe das auch schon mal erlebt.' Und wenn es unsere Nähe spürt. Wenn es fühlt, dass wir da sind."
Über den Experten
- Bernhard Juchniewicz ist Erziehungswissenschaftler und Präsident des Bunds Deutscher Diplom-Pädagogen (BDDP) in Düsseldorf sowie der European Coaching Association.
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