Die Tomaten haben ein paar Dellen, die Kartoffel hat leicht ausgetrieben, auf die Reste der gestrigen Mahlzeit hat man keinen Hunger - oft landen solche Lebensmittel in Privathaushalten im Müll. TV- und Sternekoch Christian Rach erklärt, wie man solche Lebensmittelverschwendung mit einfachen Tricks vermeidet und warum das einen großen Effekt auf Klima und Umwelt hat.
Etwa zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jährlich entsorgt. Ein Großteil des Lebensmittelabfalls entsteht dabei laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Privathaushalten: 6,1 Millionen Tonnen landen dort im Müll, das sind etwa 75 Kilogramm jährlich pro Person.
Der TV- und Sternekoch
Welches Lebensmittel haben Sie zuletzt weggeworfen?
Christian Rach: Man muss klar unterscheiden zwischen Lebensmitteln, die noch genießbar wären, und solchen, die es nicht mehr sind. Ich habe kürzlich ein Kartoffelgratin gemacht und die Schalen wanderten in den Müll. Außerdem habe ich letzte Woche ein Netz Muscheln gekauft, das ich für Freunde zubereiten wollte. Zu Hause habe ich gemerkt, dass viele Muscheln, die ich zuvor nicht gesehen hatte, kaputt oder geöffnet waren. Ich kenne das Risiko von Muscheln und da ich Gäste hatte, wollte ich das nicht eingehen. Also musste ich auch dieses Nahrungsmittel entsorgen.
Der Großteil der Lebensmittelabfälle entsteht in privaten Haushalten. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Oft ist es Bequemlichkeit, meistens aber fehlt das Bewusstsein. Wir haben schon früher Fernsehbeiträge über Lebensmittelverschwendung produziert, aber bis es in das Bewusstsein der Menschen vordringt und dann auch noch einen aktiven Handlungsumschwung hervorruft, dauert es lange. Es ist Aufklärung und Bildungsarbeit notwendig, die fast an Penetranz heranreicht, aber nur so erreichen wir Besserung. Es gibt und kann kein Gesetz geben, das uns vorschreibt, was wir noch essen müssen. Der Gesetzgeber kann Richtlinien einführen. Die Entscheidung, ob man ihnen folgt, liegt beim Einzelnen.
Es gibt das Mindesthaltbarkeitsdatum – kurz MHD genannt - als Richtlinie für den Verbraucher …
Als das Mindesthaltbarkeitsdatum eingeführt wurde, suggerierte es eine große Verbrauchersicherheit. Heute ist es nur noch ein Tool für Produzenten geworden, das anzeigt, bis wann sie die Farbechtheit, die Qualitätsgenauigkeit, die Optik und andere Merkmale garantieren. Letztlich hat das Mindesthaltbarkeitsdatum nichts mit dem Verzehrdatum zu tun.
Was wäre sinnvoller als das MHD?
Wir schimpfen viel über die Briten und ihren Brexit (lacht), aber bei dieser Sache könnten wir uns eine Scheibe abschneiden: Die Briten kennzeichnen ihre Lebensmittel mit "best before". Man könnte das als Verbrauchsdatum übersetzen. Auf verderblichen Lebensmitteln wie Hackfleisch sind solche Daten sinnvoll, denn man sollte es nach Überschreitung aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr essen. Auf getrockneten Nudeln, Zucker oder Salz ist so eine Information hirnrissig. Die Qualität ändert sich über die Jahre kaum.
Haben Sie einen allgemeinen Tipp für Verbraucher, wie sie ohne auf das MHD zu achten feststellen können, ob ein Lebensmittel noch genießbar ist?
Riechen Sie, schmecken Sie und schauen Sie sich das Nahrungsmittel genau an. Wenn etwas wirklich vergammelt ist, dann schmeißen Sie es weg. Wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, das Lebensmittel aber einwandfrei wirkt, dann gehört es noch lange nicht in die Tonne. Vertrauen Sie ihren Sinnen! Der Körper ist mit allen Sensoren und Alarmsystemen ausgestattet. Die meisten Menschen können leider im Gegensatz zu unseren Großeltern nicht mehr guten von schlechtem Schimmel unterscheiden. Essen Sie daher verschimmelte Dinge lieber nicht, denn es ist ein Pilz, der sich in feinsten Äderchen durch die Nahrung zieht.
Welche anderen Tipps haben Sie, um Lebensmittelverschwendung im Privathaushalt zu vermeiden?
Schreiben Sie sich einen Einkaufszettel und überlegen Sie sich davor genau: Wer kauft was ein und warum? Außerdem sollten Sie anfangen, ihren Kühlschrank zu verstehen. Klingt einfach, aber viele haben das bis heute nicht geschafft. Es gibt klare Richtlinien, wo sie was lagern – und was überhaupt nicht in den Kühlschrank gehört. Die Luftzirkulation im Kühlschrank ist entscheidend für die Frische und Haltbarkeit des Lebensmittels. Lesen Sie einfach mal die Anleitung.
Bei Discountern sind die Regale oft voll mit Großpackungen zu kleinen Preisen. Fördert das die Lebensmittelverschwendung?
Das kann man nicht pauschal sagen. Wenn in einem Haushalt sechs hungrige Münder versorgt werden wollen, ist eine Großpackung sinnvoll. Gerade jetzt, in Zeiten von Corona und Kurzarbeit müssen viele auf das Geld achten. Da darf man günstige Waren nicht verurteilen. Aber jeder Verbraucher sollte versuchen schlau einzukaufen. Ich gehe beispielsweise Samstagmittag um 13 Uhr auf den Markt. Die Händler wollen ihre frischen Waren nicht über das Wochenende behalten, dabei würden viele Produkte verderben. Ergo bekommt man gute Qualität zu günstigen Preisen. Und das gilt nicht nur für den Markt, sondern in anderer Form auch für die Supermärkte: Achten Sie auf die Angebote, vergleichen Sie Preise und Qualität.
Was können Supermärkte ändern?
Die großen Discounter und Supermärkte haben den Trend der Bevölkerung bereits erkannt und aufgenommen: Regionale Ware ist gefragt. In Usedom liegen andere Dinge im Regal als in Heilbronn und das ist gut so. Natürlich gibt es die italienische Pasta, die überall gleich ist. Aber Regionalität ist ein Schlüssel dazu, lange Transportwege zu vermeiden. Corona hat es gezeigt: Wir brauchen doch gerade gar nicht den Spargel aus Chile. Wir sind hier mitten in der Ernte und haben alle Produkte in der besten Qualität vor Ort.
Lebensmittelverschwendung findet auch in der Gastronomie statt. Wo müsste man hier am ehesten ansetzen?
Die Margen bei den Supermärkten, insbesondere bei inhabergeführten, sind unglaublich eng. Das Gleiche gilt für die Gastronomie: Alles, was hier weggeschmissen werden muss, schmälert die sowieso schon geringen Einnahmen. Nur auf die Gastronomen zu schimpfen, ist langweilig. In meinen Augen haben wir zwei große Baustellen: die Haushalte und die Produzenten. Bei Letzteren haben wir wirklich null Transparenz. Es gibt keine Verpflichtung für die Hersteller zu veröffentlichen, was und wie viel bei dem Ernte- oder Produktionsprozess weggeschmissen wird. Es geht mir dabei nicht darum, einen Produzenten an den Pranger zu stellen, sondern eine Lösung zu finden. Die zweite Baustelle sind die Privathaushalte. Hier entstehen etwa 60 Prozent der vermeidbaren Lebensmittelabfälle.
Sollte es in den Supermarktregalen mehr krummes Gemüse und "B-Waren" geben?
Ob die Karotte krumm ist oder nicht, macht bei der Qualität keinen Unterschied. Wir haben uns einfach zu sehr daran gewöhnt, dass der Apfel gewachst ist und glänzt und die Karotte eine kerzengerade Form aufweist. Da muss ein Umdenken stattfinden und es muss Verbraucher geben, denen es egal ist, wie das Obst und Gemüse aussieht. Auf der anderen Seite ist eine Karotte mit zwei Verästelungen auch schwerer zu schälen und es kostet mehr Zeit. Eine Lösung wäre, im Supermarkt zweierlei Karotten anzubieten: Die Karotten mit Makel gibt man dann zu einem geringeren Obolus ab als die Bilderbuch-Karotte. Das wäre eine Win-Win-Situation und kein Produkt müsste weggeschmissen oder als Tierfutter verwendet werden.
Momentan findet man in den Mülltonnen der Supermärkte oft noch genießbare Lebensmittel. So ist das "Containern" entstanden: Menschen verschaffen sich Zugang zu den Tonnen und bedienen sich gratis an den noch guten Lebensmitteln. Legal ist das aber nicht.
Man muss mal eine Lanze für Rewe, Edeka und wie sie alle heißen brechen: Lebensmittel, die kurz vor dem MHD stehen und vor zehn Jahren noch weggeschmissen wurden, gibt es jetzt oft zu günstigen Preisen. Man findet sie schön inszeniert im Verkaufsraum und nicht im Container. Würde das in größerem Rahmen stattfinden, wäre das Containern ad absurdum geführt. Dass die Supermärkte oft entsorgen, statt zu spenden, hängt mit der Rechtslage zusammen. Es ist zu risikoreich und kompliziert, denn sie haften für ihre Spende. In den USA ist das anders, dort wurden die Handelsketten aus der Haftung herausgenommen. So können sie Lebensmittel, die am Ende ihres Mindesthaltbarkeitsdatums sind oder eine Delle haben ganz einfach an gemeinnützige Organisationen abgeben. Da ist auch hierzulande der Gesetzgeber gefragt, um solche Lebensmittelverschwendung zu vermeiden.
Ist dem Verbraucher überhaupt klar, welche Auswirkung Lebensmittelverschwendung hat?
Lebensmittelverschwendung ist Ressourcenverschwendung: Wie viel Liter Wasser braucht die Tomate, bis sie reif ist? Wie viel Getreide essen die Schweine, bis sie ausgewachsen sind? Tiere stoßen Gase aus, Wälder werden verödet, Ackerland wird bewirtschaftet, um ein Produkt herzustellen. Wir sehen das kleine Stück, das wir wegschmeißen, aber dahinter steht ein ganzer Kreislauf. Bis ein Produkt, egal ob es jetzt pflanzlichen oder tierischen Ursprungs ist, bei uns auf dem Teller liegt, hat es schon unglaublich viel Energie und Ressourcen verbraucht. Und diese ganze Energieverschwendung hat maßgebliche Auswirkungen auf die Umwelt, auf das globale Klima. Wir können diesen Kreislauf der Verschwendung durchbrechen, wenn wir unser Verhalten ändern und weniger Lebensmittel wegschmeißen.
Eine Kampagne wie "Too Good To Go" ist ein Weg, an den Verbraucher mit Informationen heranzutreten. Wie macht man den Menschen noch klar, was Lebensmittelverschwendung bedeutet?
Das ist eine politische Aufgabe. Männer und Frauen sollen alle gleichermaßen arbeiten und sich selbst verwirklichen. Das ist gut und wichtig. Früher wurden Kenntnisse über Lebensmittel, ihre Eigenschaften und Verarbeitung in der Familie tradiert, das findet meist nicht mehr statt. Diese Aufgabe muss nun der Staat übernehmen. Was macht weißes Mehl? Welche Fette sind gesund, welche nicht? Kinder müssen den Effekt der Lebensmittel auf den Körper lernen. Nicht nur aus dem gesundheitlichen Aspekt heraus, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive. 60 Prozent der Krankenhauseinlieferungen hängen irgendwie mit der Ernährung zusammen. Der Föderalismus hat Vorteile, das haben wir in der Corona-Zeit gesehen. Bei der Bildung allerdings sage ich: Wir brauchen ein einheitliches Fach zur Ernährung in allen Bundesländern, um ein Bewusstsein bei der jungen Generation zu schaffen. Es ist nicht mit fünf Fernsehsendungen und drei Appellen getan, sondern da muss eine Bildungsoffensive her, die genau das zum Thema macht. Der Schlüssel ist Bildung, Bildung und nochmal Bildung.
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