Der Sturm auf das Kapitol in Washington hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Noch-Präsident Donald Trump hat diese Eskalation provoziert, aber auch die Medien trifft eine Mitverantwortung.

Ein Kommentar

Der amtierende US-Präsident Donald Trump ist ein Verlierer. Das schmerzt ihn wohl deutlich mehr als viele andere Bezeichnungen, die dem US-Präsidenten an diesem Mittwoch gegeben wurden. "Das Oberhaupt eines faschistoiden Mobs", "Terrorist Leader", "Antidemokrat".

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Die Anhängerschaft von Trump ist in den vergangenen vier Jahren trotz seiner zahllosen bewiesenen Lügen nicht gesunken, sondern gestiegen. Aber die Zahl der Gegner Trumps ist noch deutlich stärker gestiegen.

Die "gestohlene Wahl", die Trump immer noch behauptet, ist keine Meinung, sondern eine Lüge. Die Gleichsetzung des Coronavirus mit einer normalen Grippe ist keine Meinung, sondern eine Lüge. Fast 30.000 falsche oder irreführende Aussagen hat die "Washington Post" Trump seit seinem Amtsantritt nachgewiesen. Die Kurve der Lügen ist in den vergangenen Tagen und Wochen deutlich angestiegen, am Mittwoch kamen weitere hinzu.

Trump ist verantwortlich für die Gewalt am gestrigen Mittwoch. Der Sturm des Kapitols in Washington ist ein Angriff auf die Demokratie. Wer seine Anhänger über Jahre populistisch aufpeitscht, wer sie selbst nach den gestrigen Protesten noch als Patrioten feiert, ist Anstifter und Täter.

Die Aufgabe für Joe Biden könnte nicht größer sein

Die Spaltung Amerikas hat Trump verschärft, aber auch zur Regierungszeit Obamas und weit davor hat sich die amerikanische Gesellschaft bereits stark polarisiert. Die Frage stellt sich, ob der gestrige Abend der Anfang einer weiteren Polarisierung und Gewaltspirale ist – oder das Ende eines unrühmlichen Kapitels der amerikanischen Geschichte.

Die Aufgabe und Verantwortung, die vor dem neuen Präsidenten Joe Biden liegt, könnte nicht größer sein.

Donald Trump ist die Person, über die wir im vergangenen Jahr am häufigsten berichtet haben. Das hat uns durchaus auch Kritik unserer Leserinnen und Leser eingebracht. Und tatsächlich wurden in der Redaktion zahlreiche Diskussionen darüber geführt, ob und wie umfangreich über die jeweils jüngste Grenzüberschreitung des US-Präsidenten berichtet werden sollte.

Denn ja: Jeder Bericht über Trump erhöht auch seine Präsenz und Relevanz in der öffentlichen Wahrnehmung. Niemand beherrscht dieses Spiel der gezielten Provokation besser als Trump.

Aber Donald Trump ist – nein war – auch der mächtigste Politiker der westlichen Welt. Seine Angriffe auf die Demokratie zu übergehen, würde der Aufgabe der Medien nicht entsprechen.

Medien tragen eine Mitverantwortung für die Eskalation

Trotzdem tragen die Medien – vor allem die sozialen Medien – eine Mitverantwortung für die Eskalation. Erst gestern, viel zu spät, löschte Twitter erste Tweets des US-Präsidenten, sperrte den Twitterkanal des Präsidenten für zunächst 12 Stunden.

Auch Facebook löschte ein Video Trumps, in dem er erneut den unbelegten Wahlbetrug behauptete. Das Vorgehen der sozialen Medien mag ein richtiger Schritt sein, trotzdem ist er problematisch. Denn die Grundlage für die Sperrungen stellen die eigenen "Gemeinschaftsstandards" dar. Die sich einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entziehen.

Aus kalkulierten Gründen mögen es die sozialen Netzwerke gar nicht, als "Medien" eingeordnet zu werden und weisen die Verantwortung für die auf ihren Seiten veröffentlichten Inhalte von sich. Man stelle ja nur die technische Plattform zur Verfügung.

Das ist deutlich günstiger. Denn klassische Medien haben neben der großen Macht der Meinungsfreiheit auch zahlreiche Verpflichtungen. Gegendarstellungen, Richtigstellungen, Schadenersatzforderungen: Medien in Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz handeln nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern sind Sorgfaltspflichten unterworfen. Über Selbstverpflichtungen gegenüber dem Presserat gelten Standards in der Berichterstattung für nahezu alle großen Medien.

Trump hat seine Relevanz verloren

Die Verlockung, über jede gezielte Provokation ausführlich zu berichten, über jedes Stöckchen zu springen, das den Redaktionen hingehalten wird, verhindern aber solche Sorgfaltspflichten nicht. Es ist die Verantwortung der Medien – ob soziale oder klassische – in ihrer Berichterstattung populistische Mechaniken zu erkennen und zu berücksichtigen.

Wie sehr sich der gestrige Abend auf das Handeln der sozialen Medien auswirken wird, muss sich erst noch zeigen. Donald Trump hingegen wird sein Handeln nicht verändern.

Trotzdem wird am 20. Januar Joe Biden seinen Amtseid auf die amerikanische Verfassung ablegen. Donald Trump verliert an diesem Tag seine Relevanz als US-Präsident. Er ist dann nur noch der Verlierer. Über den dann hoffentlich deutlich weniger berichtet werden muss.

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