Zur Überraschung vieler Beobachter zieht Aserbaidschan seine Präsidentschaftswahlen vor. Seit 2003 ist Ilham Alijew an der Macht, der Ende vergangenen Jahres durch die Offensive auf Berg-Karabach einen großen politischen Erfolg einfuhr. Experte Marcel Röthig erklärt, welches Kalkül dahintersteckt, jetzt die Wahlen vorzuziehen – und warum das auch Europa interessieren sollte.
Es war eine Nachricht, die in Baku jeden überrascht hat. Aserbaidschan hat für den 7. Februar außerplanmäßige Präsidentschaftswahlen angekündigt. Eigentlich hätten die erst 2025 angestanden. Doch nun unterzeichnete der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew eine Anordnung, die Wahlen vorzuziehen.
"Damit hat hierzulande niemand gerechnet", sagt Marcel Röthig. Er ist Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Wahlen vorzuziehen ist unter gut begründeten Umständen möglich", sagt Röthig. Bislang hat die Regierung sich noch nicht zu ihren Motiven für den neuen Wahltermin geäußert. Doch Experten haben bereits mehrere Vermutungen.
Alijew auf dem Höhepunkt seiner Macht
Die außerordentlichen Präsidentschaftswahlen finden zeitgleich mit der Wiederherstellung der Souveränität Aserbaidschans in Berg-Karabach statt. Mit dem Konflikt um diese Region hatte das Land zwischen dem Kaspischen Meer und dem Kaukasus, das knapp über 10 Millionen Einwohner zählt, im September 2023 Schlagzeilen gemacht.
Damals startete Aserbaidschan eine neue Offensive in der Region, um die Armenien und Aserbaidschan bereits seit langem streiten. Die Lage der armenischen Bevölkerung in der Region, die unter einer Blockade Aserbaidschans litt, hatte sich zuletzt immer weiter zugespitzt. So konnte Baku bereits nach einem Tag den militärischen Sieg erklären. Eine Massenflucht der armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs nach Armenien war die Folge, die selbsternannte Republik musste ihre Auflösung erklären.
"Alijew befindet sich dadurch auf dem Höhepunkt seiner Macht", sagt Experte Röthig. Bei der vorgezogenen Wahl gehe es deshalb um eine Gesamtlegitimation. Der heute 62-jährige Alijew ist seit 2003 Präsident der einstigen Sowjetrepublik und wurde mehrmals in Folge wiedergewählt. Sollte er auch die jetzigen Wahlen gewinnen, würde er planmäßig für weitere sieben Jahre im Amt bleiben.
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Momentum ausnutzen
Alijew habe mit der Rückeroberung der Region Berg-Karabach das Trauma Aserbaidschans gelöst. "Dieses Momentum will die Regierung ausnutzen, im ganzen Land das Mandat des Präsidenten zu erneuern", so Röthig.
Das Motiv sei pragmatisch: "Wirtschaftlich geht es Aserbaidschan nicht mehr so gut. Das Land ist zwar reich an Öl und Gas, aber in der Region hat Aserbaidschan nach wie vor die höchste Inflation, es gibt eine enorme Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich und immer wieder Vorwürfe von Korruption bis in die höchsten Kreise", erklärt Röthig. Kurz vor den Wahlen seien kritische Journalistinnen und Journalisten weggesperrt worden, die zu tief gegraben hätten.
Das Wirtschaftswachstum sei gemessen an den Nachbarländern sehr bescheiden. "Ein Land, das so einseitig auf Öl und Gas ausgerichtet ist, kann schnell ins Schlingern geraten", sagt Röthig.
System gleicht einer Erbmonarchie
Nun merke man: "Es gibt eine gewisse Unruhe unterm Deckel. Das Kalkül also: Lieber jetzt die Wahl vorziehen, als möglicherweise beim regulären Termin nächstes Jahr die Quittung zu bekommen, wenn die wirtschaftliche und soziale Lage nochmal brenzliger ist und das große Thema Karabach und Armenien abgeräumt ist", so Röthig.
Die Sorge Alijews sei, dass das Momentum seines Erfolgs verpuffen könnte und die Bevölkerung anfangen könnte, Fragen zu stellen, wie es sonst um die Lage im Land bestellt sei. Das politische System in Aserbaidschan gleicht dem einer Erbmonarchie. Alijews Vater war sein Vorgänger, seine Frau ist Vizepräsidentin. Alle wichtigen Schalthebel sind in der Hand einer einzigen Familie.
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"Die Menschen rechnen ihm die Rückeroberung von Berg-Karabach sehr hoch an. Aber das Trauma war das, was Opposition, Zivilgesellschaft und die Macht zusammengehalten hat – das könnte sich nun ändern", so Röthig.
Ebenso sei es möglich, dass Aserbaidschan mehr wolle als nur Berg-Karabach. "Die Gefahr besteht zumindest verbal. Es gibt immer wieder den Diskurs, dass Armenien eigentlich West-Aserbaidschan wäre", so Röthig. Beide Länder erkennen ihre Grenzen gegenseitig nicht an.
"Im Vorwahlkampfgetöse werden wieder revanchistische Töne laut. Dabei geht es vor allem um den Sangesur-Korridor, eine Verbindungsstraße durch Armenien in eine aserbaidschanische Exklave", sagt Röthig. Aus aserbaidschanischer Sicht solle diese Straße extraterritorial verlaufen – dafür müsste Armenien aber einen Teil seines Territoriums abgeben.
Sorge in Armenien
"In Armenien macht man sich deshalb Sorgen, dass Aserbaidschan dieses Ziel in dem Moment der Stärke notfalls militärisch durchsetzt – wenn der Westen in der Ukraine beschäftigt ist und Russland auch nicht einschreiten würde in einer solchen Situation", so Röthig.
Aserbaidschan blicke auch auf Russland und die dortigen Wahlen im März. "Die Wahlen in Russland sind natürlich orchestriert, aber man will sich in Baku absichern, dass Alijew im Amt ist, sollte es in Russland in irgendeiner Form zu Veränderungen oder zu Protesten kommen", vermutet der Experte. Auch wenn das sehr unwahrscheinlich sei, wolle man sicherstellen, dass es zu keinem Spillover-Effekt, also Übertragungs-Effekt, aus Moskau komme.
Beziehungen zu Moskau und Ankara
Baku und Moskau haben aufgrund der gemeinsamen sowjetischen Geschichte enge Beziehungen. Im Konflikt um Berg-Karabach war Russland ursprünglich militärischer Partner Armeniens, wandte sich zuletzt aber immer weiter von Armenien ab, weil es im Ukraine-Konflikt mehr Interesse an Beziehungen zu Aserbaidschan und auch zur Türkei hat.
Aserbaidschan pflegt enge Beziehungen zu Erdogan und der Türkei, die Aserbaidschan auch kulturell sehr nahesteht. "Aserbaidschan weiß, dass es für den Westen wirtschaftlich attraktiv ist, da es eine Öl- und Gasalternative zu Russland bietet. Das ist für Aserbaidschan ein Moment der Stärke", so Röthig.
Keine faire, freie Wahl
Das Ergebnis der jetzigen Wahl sei faktisch schon vorgegeben, die Wahlen seien durchorchestriert und weder frei noch fair. "Es gibt keine nennenswerten Gegenkandidaten. Die Opposition selbst ist schwach, ist marginal", so der Experte. Die Kandidaten selbst würden im Grundsatz eher den Präsidenten unterstützen, als dass sie eine wirkliche Alternative darstellen würden. "Es ist daher nur eine Wiederholung der Legitimation ohne großen Wettbewerb", sagt Röthig.
In Baku wird es nur eine OSZE-Beobachtermission geben, aber keine Beobachtermission der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Weil diese nicht zugelassen worden war, wurde Aserbaidschan in der vergangene Woche das Stimmrecht in der parlamentarischen Versammlung des Europarats entzogen.
Wichtig auch für Deutschland
"Das war dabei nur der letzte Tropfen", so Röthig. Eine Rolle gespielt habe dabei auch die Korruption von Abgeordneten. "Selbst hierzulande geht die Staatsanwaltschaft gegen die Korruption von ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten vor, die von Aserbaidschan gekauft wurden", sagt er.
Röthig meint, dass auch Deutschland die Lage in dem Land nicht unbeobachtet lassen sollte. "Aserbaidschan gehört zu Europa. Auch wenn Aserbaidschans politisches System sicherlich sehr weit weg von unserem ist, betrifft es uns eben doch, weil es unsere Nachbarschaft betrifft", sagt er.
Derzeit blicke der Westen stark auf die Ukraine. Doch bei Aserbaidschan schwele dauerhaft der jahrzehntelange Konflikt mit und damit auch die Frage, wie es mit Frieden und Sicherheit im Südkaukasus weitergeht. "Das Schlimmste, das passieren könnte, wäre eine große Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan. Das hätte regionale Auswirkungen, die uns direkt betreffen würden", so Röthig.
Über den Gesprächspartner
- Marcel Röthig ist Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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