Die Volksparteien SPD, CDU und CSU hatten im vergangenen Jahr wieder mit starkem Mitgliederschwund zu kämpfen. Anders dagegen sieht es derzeit bei AfD und Grünen aus. Wo liegen die Gründe für die sinkende Begeisterung für Union und SPD? Und ist die Ära der Volksparteien vorbei?
Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD haben im vergangenen Jahr mehrere Tausend Mitglieder verloren, während die Oppositionsparteien teils kräftige Zuwächse verzeichnen. Das zeigt eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in den Parteizentralen.
Union und SPD verlieren Tausende Mitglieder
Den stärksten Schwund verzeichnete die CDU: Sie hatte zum Jahresbeginn 2018 noch knapp 426.000 Mitglieder und ist seitdem um rund 11.000 auf zuletzt rund 415.000 Mitglieder abgesackt.
Bei der SPD sank die Mitgliederzahl im gleichen Zeitraum weniger stark: von rund 443.000 auf nun knapp 438.000.
Auch die CSU verbuchte ein Minus: Nach 141.400 zum Jahresbeginn 2018 kommt sie mittlerweile nur noch auf gut 139.000 Mitglieder.
In den vergangenen Wochen ging es bei den Christsozialen allerdings aufwärts: "Wir haben seit Jahresbeginn steigende Mitgliederzahlen", erklärte die Partei jüngst in München. Die Verluste der vorherigen zwölf Monate wurden dadurch jedoch nicht ausgeglichen.
Dass es anders geht, beweisen die Grünen und die AfD. Beide Parteien konnten sich im Jahr 2018 über ein kräftiges Mitgliederwachstum freuen. Die AfD gewann 6.000 Mitglieder, die Grünen sogar rund 10.000.
Die jüngsten Verluste bei der Union und den Sozialdemokraten passen ins Bild der vergangenen Jahrzehnte: Seit Anfang der 90er Jahre haben die Volksparteien im Schnitt die Hälfte ihrer Mitglieder verloren.
So gab es im Jahr 1990 noch gut 943.000 Menschen mit einem SPD-Parteibuch, die Schwesterparteien CDU und CSU hatten zusammen mehr als 975.000 Mitglieder.
Heute sind es nur noch 438.000 bzw. 554.000 Parteigänger. Dabei sind Gründe für den Mitgliederschwund vielfältig.
Ursachen des Mitgliederschwunds
Der Parteienforscher und Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer ist Professor an der Freien Universität Berlin. Bis 2017 leitete er dort das politik- und sozialwissenschaftliche Otto-Suhr-Institut. Im Interview mit der Zeit sprach er über die Ursachen des Rückgangs der Parteimitgliedschaften.
Er sieht als einen Grund die Erosion der sozialen Milieus. Unter sozialen Milieus werden in der Wissenschaft gesellschaftliche Gruppen mit ähnlichen Wertehaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung und damit auch Parteizugehörigkeiten verstanden.
Die SPD-Wählerschaft und Mitglieder rekrutierten sich vor allem aus dem sozialdemokratischen Arbeitermilieu und der gewerkschaftsnahen Industriearbeiterschaft.
Diese klassische Arbeiterschicht schrumpft aber zunehmend. Das belegen auch sinkende Zahlen an Gewerkschaftsmitgliedern. So hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 1991 11,8 Millionen Mitglieder. Heute sind es nur noch knapp 6 Millionen.
Die Union dagegen hat ihre Basis im christlich-konservativen Milieu. So erreichte die CDU laut der Bundeszentrale für politische Bildung in der Gruppe der praktizierenden Christen Stimmenanteile von bis zu 70 Prozent.
Doch auch das klassische christliche Milieu erodiert. Waren 1990 noch 72 Prozent der Deutschen Mitglieder in der katholischen oder evangelischen Kirche, so sind es 2017 nur noch 54 Prozent. Seit Jahrzehnten verzeichnen die Kirchen mehr Austritte als Eintritte.
Wolfgang Merkel ist Politikwissenschaftler und Direktor der Abteilung "Demokratie und Demokratisierung" des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin.
In einem Beitrag für die FAZ schreibt er über den Niedergang der Volksparteien. Auch er führt den Mitgliederschwund auf die erodierenden sozialen Milieus und den Mitgliederschwund der Kirchen und Gewerkschaften zurück. Gleichzeitig betont er aber auch programmatische Gründe.
Markenkern der Parteien verloren
Lange Zeit hatte die SPD einen Alleinvertretungsanspruch als systemkonforme Partei im linken politischen Spektrum.
In den 1980ern änderte sich das allerdings. Im Zuge der 68er-Bewegung wurde Ökologie in breiten Wählerschichten zu einem zentralen Thema. In der Folge entstand in den 80er Jahren die Partei die Grünen, ab 1990 gesamtdeutsch unter dem Namen Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Merkel sieht die Fragmentierung des linken politischen Raums als Folge einer "selbst verschuldete Vernachlässigung des ökologischen und postmateriellen Milieus durch die Sozialdemokratie".
Durch die stärkere Ausrichtung der SPD zur politischen Mitte insbesondere unter Gerhard Schröder Ende der 90er bis Anfang der 2000er Jahre verschärfte sich dies nochmals.
Dadurch eröffnete sich laut Merkel auf Links ein politischer Freiraum, den die Ostdeutsche PDS, später Die Linke, füllte.
Doch auch für die Union entstand jüngst neue Konkurrenz durch einen inhaltlichen Kurswechsel.
Politikwissenschaftler Merkel konstatiert den konservativ-christlich geprägten Volksparteien eine Bewegung hin zur kosmopolitischen Mitte, insbesondere in Fragen der europäischen Integration, von Minderheitenrechten, Multikulturalismus, Flüchtlingen und Immigration.
Dadurch bot sie der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) auch mit deren rechtsextremen Tendenzen politischen Raum.
So konstatiert Wolfgang Merkel sowohl der SPD als auch der Union einen Verlust ihres linken bzw. konservativen Markenkerns, der neuen Parteien rechts und links der Mitte Raum gab.
Umwelt- und Bürgerbewegungen konkurrieren mit Parteien
Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer sieht aber nicht nur wachsende Konkurrenz um Mitglieder in der größer werdenden Parteienlandschaft. Auch Organisationen und Bewegungen wie Attac, Greenpeace oder Ende Gelände konkurrieren immer stärker mit Parteien um politisch engagierte Menschen.
Viele ziehen heute die Teilnahmemöglichkeiten in Umweltbewegungen, Menschenrechtsorganisationen oder politischen Bündnissen dem Engagement in den etablierten Parteien vor.
Ist die Ära der Volksparteien zu Ende?
Manche Wissenschaftler sprechen angesichts sinkender Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen gar vom Ende der Ära der Volksparteien.
Das Ergebnis der SPD in der bayerischen Landtagswahl von unter 10 Prozent lässt diesen Schluss durchaus zu. Auch die Union hat Verluste hinnehmen müssen, kann jedoch noch immer stabile Ergebnisse über 30 Prozent holen.
Derzeit versucht die SPD mit ihren Vorstößen zu einer Abschaffung von Hartz IV und einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns zurück zu ihrem sozialdemokratischen Markenkern zu finden.
In einigen Umfragen konnte sie zuletzt bereits wieder zulegen und hatte Mitte Februar im "Sonntagstrend" auch wieder die Grünen überholt. Die Rückkehr der SPD zur Volkspartei ist also nicht auszuschließen.
Fragmentierung des Parteiensystems wie in anderen europäischen Ländern
Der Trend deutet mittel- und langfristig aber eher in eine andere Richtung.
Wolfgang Merkel schreibt dazu in der FAZ: "Alle gesellschaftlichen und politischen Zeichen deuten darauf hin, dass es zu einer Renaissance der großen Volksparteien nicht kommen wird."
Die langfristige Zersplitterung des Parteiensystems ist schließlich nicht nur ein deutsches Phänomen. In vielen skandinavischen Ländern und Benelux-Staaten ist dies bereits Normalität geworden.
Die Folge sind nicht selten Minderheitsregierungen, bei denen die Parteien auf wechselnde Mehrheiten für Gesetzesvorhaben setzen müssen. Länder wie Schweden zeigen aber, dass solche Systeme durchaus funktionieren und die politische Kultur durch konstruktive Debatten auch beleben können. (tha/dpa)
Verwendete Quellen:
- Zeit Interview mit Oskar Niedermayer: "Die goldene Zeit der Mitgliederparteien ist vorbei"
- Frankfurter Allgemeine (FAZ): "Der Niedergang der Volksparteien"
- Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags: "Nachlassende Bindungskraft der Volksparteien - Ursachen und Handlungsmöglichkeiten"
- Bundeszentrale für politische Bildung: Mitgliederentwicklung der Parteien
- Welt: "Grüne verbuchen Rekord beim Mitgliederzuwachs im Osten"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Wahlergebnisse und Wählerschaft der SPD"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Wahlergebnisse und Wählerschaft der CDU"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Soziale Milieus"
- Deutscher Gewerkschaftsbund: Mitgliederzahlen 1950 bis 2018
- Kirchenaustritt.de: "Statistik: Religionszugehörigkeit in Deutschland"
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