Die konservative Fraktion im Europaparlament (EVP) erwägt einen drastischen Schritt: Sie droht der Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit dem Rausschmiss, sollte sie den Rechtsstaat weiter demontieren. Im Interview erklärt Ungarn-Experte Ulf Brunnbauer, warum die EVP Orbán mit dem Ausschluss einen Gefallen tun würde und welche Argumente dennoch dafür sprechen.
Die Gewaltenteilung: ausgehebelt. Zeitungen, TV-Sender und Radio-Stationen: von Gefolgsleuten dominiert. Die renommierteste Universität des Landes: ins Ausland vertrieben. Das ist Ungarn 2019.
Der Umbau des Landes von einem demokratischen zu einem autoritären Staat ist das Werk von Ministerpräsident Viktor Orbán und dessen Partei Fidesz. Noch ist Fidesz Mitglied der EVP, der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament, zu der aus Deutschland CDU und CSU gehören. Doch nun erwägt die EVP den Rauswurf der Partei.
Was spricht für, was gegen diesen Schritt? Fragen an Prof. Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung der Universität Regensburg.
Herr Brunnbauer, die EVP ringt mit der Frage, ob sie Viktor Orbáns Fidesz aus der Fraktion ausschließen soll. Was glauben Sie, hofft Orbán - will er den Rausschmiss?
Ulf Brunnbauer: Ich kann natürlich nicht in seinen Kopf schauen. Aber es gibt wohl informierte Stimmen, die sagen, Orbán wolle den Bruch, um vor oder nach der Europawahl ein Bündnis mit anderen Rechtspopulisten eingehen zu können, etwa mit der italienischen Lega.
Fidesz könnte der EVP ja auch von sich aus den Rücken kehren. Orbán möchte aber offenbar nicht selbst der Buhmann sein.
Genau. Der EVP die Rolle des Angreifers zuzuschieben, passt sehr gut in seine Propaganda. Das entspricht genau der Logik, die die Politik Orbáns gegenüber dem Westen seit Jahren auszeichnet: Er stellt sich selbst und das Land als Opfer dar, nach dem Motto: Früher war Ungarn das Opfer der Sowjetunion, heute ist es das Opfer der EU. Orbán konstruiert Verschwörungstheorien und präsentiert sich als letzter aufrechter Verteidiger der Interessen der ungarischen Nation.
Orbán und Fidesz demontieren den Rechtsstaat seit Jahren systematisch. Die Befürworter eines Ausschlusses sagen, es sei höchste Zeit, die Konsequenz zu ziehen. Die Gegner hingegen argumentieren, mit einem Ausschluss verliere Europa die letzte Möglichkeit, auf Ungarn einzuwirken. Was wiegt für Sie schwerer?
Für mich als externen Beobachter ist es schwer nachvollziehbar, dass Fidesz überhaupt noch Teil der EVP ist. Schließlich verstößt die Partei seit Jahren gegen demokratische und christliche Prinzipien. Außerdem muss man sich vor Augen führen: Die Propaganda-Kampagnen gegen George Soros und die EU werden nicht aus der Parteikasse von Fidesz bezahlt, sondern mit dem Geld der Steuerzahler - und das in einem Land, das jedes Jahr mehrere Milliarden Euro Strukturhilfe von der EU erhält.
In der Vergangenheit hat die Tatsache, dass Fidesz Teil der EVP ist, also nicht geholfen, Ungarn auf demokratischem Weg zu halten.
Diesen Schluss muss man ziehen.
Was macht den Schritt für die EVP dann so schwer - die Angst vor dem Verlust der Stimmen der 13 Fidesz-Abgeordneten?
Die EVP wird auch nach der Europawahl stärkste Kraft im Parlament sein, vermutlich mit einem noch deutlich größeren Abstand vor der zweitgrößten Fraktion als jetzt. Insofern wird es auf die ungarischen Abgeordneten nicht ankommen.
Wie ist die Stimmung in der ungarischen Bevölkerung? Wie wird die Überlegung der EVP dort wahrgenommen?
Viele Ungarn wird der Streit nicht kümmern. Die wenigsten wissen wohl überhaupt, wie die Zusammensetzung im Europäischen Parlament ist - da unterscheiden sich die Ungarn nicht von anderen Nationen. Außerdem genießt Fidesz weiterhin sehr großen Rückhalt in der Bevölkerung, was auch daran liegt, dass die Medien bis auf wenige Ausnahmen staatlich gelenkt sind. Die Propaganda verfängt, obwohl sie auf uns völlig absurd wirkt und wir nicht nachzuvollziehen können, warum die Menschen solch krude Verschwörungstheorien glauben.
Sei sprachen eingangs davon, dass Orbán bei seinem Feldzug gegen die EU häufig Parallelen zur sowjetischen Besatzung zieht. Welche Rolle spielt die Historie des Landes für die heutige Situation?
Viele Einstellungen haben Wurzeln in realen historischen Erfahrungen. Und die historische Erfahrung der Ungarn aus den vergangenen Jahrhunderten ist, dass sie wiederholt von fremden Mächten beherrscht wurden und hart um ihre Eigenständigkeit kämpfen mussten. Deshalb fällt Propaganda gegen ausländische Mächte auf fruchtbaren Boden, auch wenn der Vergleich zwischen Moskau und Brüssel absurd ist.
Auch, dass Xenophobie in Ungarn noch weit verbreitet ist, hat historische Gründe: Anders als die westeuropäischen Länder haben die osteuropäischen nach 1945 kaum Erfahrung mit Einwanderern gemacht. Die Menschen sind an Migranten also nicht gewöhnt. Das wird sich mit der Zeit ändern, aber das dauert ein bis zwei Generationen.
Apropos Zeit: Bis zur Europawahl sind es nur noch drei Monate. Denken Sie, die EVP wird noch vor der Wahl entscheiden, ob sie Fidesz ausschließt?
Ich gehe nicht davon aus. Vereinzelt gab es die Forderung ja schon öfter und doch hat die EVP nichts unternommen. Aus meiner Sicht wird maßgeblich sein, wie sich Angela Merkel positioniert, ob sie ein Machtwort spricht oder nicht.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Brunnbauer.
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