Ein von den USA und Saudi-Arabien ausgehandelter Waffenstillstand im Sudan sollte Zeit für humanitäre Maßnahmen für die Zivilbevölkerung schaffen. Doch die Kämpfe zwischen der Regierungsarmee und der paramilitärischen RSF gehen weiter.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von David Bieber sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Trotz des von den USA und Saudi-Arabien ausgehandelten Waffenstillstandes im Sudan gehen die Kämpfe teilweise weiter. Und die humanitäre Lage der rund 49 Millionen Sudanesen verschlimmert sich von Tag zu Tag. "Eigentlich sollte der Waffenstillstand ein Sieben-Tage-Fenster schaffen, um humanitäre Maßnahmen zu ermöglichen und der Zivilbevölkerung eine sichere Ausreise aus den Konfliktgebieten zu ermöglichen", erklärt Michael Gabriel, Landesdirektor der Welthungerhilfe in Sudan, im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Der US-Amerikaner ist derzeit vor Ort und schildert die komplexe Lage in dem Bürgerkriegsland, das seit dem 15. April von heftigen Kämpfen erschüttert wird. Bisher sind nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP etwa 1.000 Menschen getötet worden.

Aber: Noch als der offizielle Waffenstillstand am vergangenen Montagabend beginnen sollte, gab es bereits Meldungen über erneute Kämpfe zwischen der Regierungsarmee und den aufständischen paramilitärischen RSF (Rapid Support Forces).

Hohe Opferzahlen in Sudans Westregion Darfur

Die Kriegshandlungen sollen aber weniger intensiv sein als an den Vortagen, berichtet etwa die "taz". Demnach seien die Gefechte und die Opferzahlen besonders schwer und hoch in Sudans Westregion Darfur. Die Welthungerhilfe zählt insgesamt 3,7 Millionen Binnenflüchtlinge im Sudan, allein seit Ausbruch der Kämpfe kamen 736.000 Vertriebene dazu. Mehr als 200.000 Sudanesen sind demnach in Nachbarländer geflohen.

"Viele sind in den benachbarten Tschad und die Zentralafrikanische Republik geflohen", sagt Gabriel, dessen Arbeit massiv unter den Kämpfen leidet. "Ich habe kaum Internet hier und sonst mangelt es an fast allem." Angesichts der desaströsen Sicherheitslage hatte die Welthungerhilfe ihre Tätigkeit genauso eingestellt wie andere Hilfsorganisationen, nimmt sie aktuell aber wieder auf. Im April waren Mitarbeitende der UN getötet worden.

Die Bedingungen, die vor dem Konflikt dazu führten, dass fast zwölf Millionen Menschen extrem von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen waren, haben sich Gabriel zufolge nun exponentiell verschlimmert und setzen Millionen weitere Menschen dem Risiko von Hunger und Mangelernährung aus. "Wegen der Kämpfe in Darfur, Khartum und mehreren anderen Gebieten sind die lokalen Märkte geschlossen, wodurch für breite Teile der Bevölkerung der Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser blockiert ist."

"Niemand ist sicher"

Seit 1998 ist die Welthungerhilfe mit Sitz in Bonn im drittgrößten Land Afrikas tätig. Während bewaffnete Gruppen und Banditen im Westen des riesigen Landes, das fünfmal so groß ist wie Deutschland, sowie um die Hauptstadt Khartum das Geschehen kontrollieren sollen und "niemand sicher ist", wie Gabriel weiter berichtet, ist die Welthungerhilfe vor allem in den östlichen Regionen aktiv.

"Hier und in einigen anderen Bundesstaaten ist es relativ ruhig und stabil, aber das könnte sich ändern. Und obwohl es hier keine Kämpfe gibt, werden die Auswirkungen des Krieges überall spürbar", erklärt Gabriel weiter. Banken funktionierten nicht vollständig, die Kosten für Lebensmittel und Treibstoff seien gestiegen und Geschäfte öffneten immer nur für kurze Zeit. Hunderttausende Menschen haben laut Gabriel Khartum verlassen, um in den östlichen Gebieten oder anderen Ländern Schutz zu suchen.

Die gegenwärtige Krisensituation in der früheren britischen Kolonie halten nach Angaben der Welthungerhilfe die Menschen davon ab, auf die Straßen zu gehen, sich mit Lebensmitteln einzudecken oder gar in der Landwirtschaft, der Haupterwerbsquelle der meisten Sudanesen, tätig zu sein. "Dies wird zur Verschärfung der Ernährungslage führen", ist sich die Welthungerhilfe sicher.

Nebst instabiler Energieversorgung sowie fehlender medizinischer Versorgung ist die Regierung weiterhin paralysiert. Seit der Machtablösung des Diktators Omar Al-Bashir im Jahr 2019 ist der Sudan in einer Dauer-Krise. Bereits unter Al-Bashir war der Sudan ein "failed state" und seine Wirtschaft stand immer kurz vor dem Zusammenbruch. De facto ist nun nicht nur die Regierung, sondern auch die Wirtschaft zusammengebrochen.

"20 Millionen Menschen leiden dramatisch an Hunger"

Statistiken und Zahlen werden oft bemüht, um das Ausmaß einer Not zu verdeutlichen. "Seit Beginn des Konflikts leiden knapp 20 Millionen Menschen dramatisch an Hunger und Unterernährung", schreibt die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO mit Fokus auf die schwieriger werdende Ernährungssituation im Sudan.

Gemäß dem kürzlich veröffentlichten überarbeiteten humanitären Reaktionsplan für 2023 liegt diese Zahl um 70 Prozent höher als die vor dem Konflikt geschätzte Anzahl von 11,7 Millionen Menschen, wie im humanitären Reaktionsplan von 2023 angegeben, der Ende 2022 veröffentlicht wurde. Die FAO schätzt, dass die Menschen besonders im Zeitraum von Juni bis September während der Trockenzeit verstärkt Notnahrungsmittel und Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen.

Die UN warnt daher vor einer weiteren Hungersnot. "Bereits nach weniger als einem Monat Krieg hat dies zu einer Verschlechterung der ohnehin schwierigen Ernährungssituation geführt", analysiert die UN-Organisation.

"Die humanitären Folgen von Vertreibungen werden bereits außerhalb des Sudan spürbar", erklärt Gabriel. Die dramatische Ernährungslage tangiert also auch die Nachbarländer Sudans, allen voran die Zentralafrikanische Republik. Dort blieben Lebensmittelimporte aus Sudan aus, in bereits notleidenden Gebieten hätten sich die Lebensmittelpreise verdoppelt; wenn dies so weitergehe, sei dort ab August mit einer Hungersnot zu rechnen.

Keine Lösung des Konflikts in Sicht

Dass es eine baldige und dauerhafte Lösung des Konfliktes gibt, ist nicht in Sicht. Die humanitäre Lage dürfte im Wesentlichen von der Geberbereitschaft des Westens und der UN abhängen. Die von der EU versprochenen 200.000 Euro für Verletzte und Kriegsbetroffene dürften lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die UN beziffert laut Welthungerhilfe den Bedarf an Hilfsgeldern auf etwa 1,75 Milliarden US-Dollar.

Michael Gabriel macht noch auf einen weiteren interessanten Aspekt aufmerksam. "Der Konflikt hier ist irgendwie eine Fortsetzung der russischen Invasion der Ukraine, denn im Sudan sehen wir auch die Rolle der Wagner-Gruppe und den Versuch Russlands, den Sudan zu kontrollieren, um einen Hafen an der Küste des Sudan in die Hand zu bekommen."

Der Westen habe gute Arbeit geleistet, um das ukrainische Volk gegen die russische Aggression zu unterstützen. "Wir dürfen die Menschen im Sudan nicht im Stich lassen, sie brauchen humanitäre Unterstützung. Jetzt muss der Westen die Menschen im Sudan vor der Aggression der Militärkräfte unterstützen, die ihnen nicht nur demokratische Freiheiten verwehren, sondern damit beschäftigt sind, die Wirtschaft vollständig zu zerstören und das Land möglicherweise in Stücke zu reißen", sagt Gabriel.

Über den Experten: Michael Gabriel ist Landesdirektor der Welthungerhilfe in Sudan. Gabriel leitet derzeit etwa 200 nationale wie internationale Mitarbeitende.

Verwendete Quellen:

  • fao.org: "The Republic of the Sudan Dramatic increase in acute food insecurity
  • due to the ongoing conflict"
  • taz.de: "Die Zerstörung eines Landes"
  • Welthungerhilfe: Factsheet Sudan – Zahlen und Fakten (Stand: 11.05.2023)
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