Nach dem endgültigen Bruch mit Sahra Wagenknecht will sich die Linkspartei neu aufstellen. Auf dem Parteitag in Augsburg zeigte sich aber, dass alte Konflikte weiter schwelen. Beim Thema Israel und Palästina sind die Gräben in der Linken tief. Dennoch gelang der Partei am Wochenende ein beachtenswerter Kompromiss, sagt der Berliner Soziologe Peter Ullrich.

Eine Analyse
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Nach dem Weggang von Sahra Wagenknecht hofft die Linkspartei auf einen Neuanfang mit mehr Einigkeit und weniger Streit. Bei einem Thema ist die Partei aber nach wie vor tief gespalten. Wie groß die Differenzen in der Bewertung des Nahostkonflikts sind, zeigte sich erneut auf dem Parteitag am Wochenende in Augsburg. Zwar konnte man sich auf ein Kompromisspapier einigen. Die anschließende Diskussion wurde aber scharf und bisweilen unversöhnlich geführt. Die Auseinandersetzung birgt für die Genossen offenkundig nach wie vor Spaltungspotenzial.

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Klaus Lederer: Linke kann "nicht einfach zur Tagesordnung" übergehen

In diesem internen Konflikt zeigt Klaus Lederer, bekannt für seine israelfreundliche Position, eine deutliche Haltung. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober sei "eine genozidale Gewaltorgie" gewesen, sagte der ehemalige Berliner Linken-Landesvorsitzende und Kultursenator auf dem Parteitag in Augsburg. Nach diesem Ereignis könne man "nicht einfach zur Tagesordnung" übergehen, redete Lederer seiner Partei ins Gewissen.

Der Bundesvorsitzende und Europa-Spitzenkandidat Martin Schirdewan wird Lederers Anspruch offenbar nicht ganz gerecht. Er habe sich "geschämt", so der Berliner Linke, dass Schirdewan seine Rede in Augsburg nicht genutzt habe, um dem spanischen Europaabgeordneten Manuel Pineda zu widersprechen. Pineda, der zur selben Europa-Fraktion wie die deutsche Linkspartei gehört, hatte die Situation in Gaza mit der im Warschauer Ghetto gleichgesetzt. "Wir haben ein Problem, wir haben ein ernsthaftes Problem", kommentierte das Lederer unter Applaus der Parteitag-Delegierten.

Viele Buhrufe gab es dagegen während der Rede von Nick Papak Amoozegar, der mit einer Kufiya, einem "Palästinenser-Tuch", auf die Bühne trat. Was Israel gerade in Gaza tue, sei "die gezielte Vernichtung eines Volkes", sagte der Schatzmeister im Landesvorstand der hessischen Linken. Die Hamas zählt Amoozegar zu den "Gruppen des palästinensischen Widerstands", deren Angriff auf Israel zwar "brutal" gewesen sei, aber keinen Genozid rechtfertige.

Das Wohlwollen der Delegierten hatte Amoozegar an diesem Tag nicht. Dennoch sind auch solche Ansichten in der Linkspartei vertreten. Immer wieder kommt es darüber zu Konflikten.

Der Nahostkonflikt wird immer wieder zur Zerreißprobe für die Linkspartei

"Der Streit um die Positionierung im Nahostkonflikt hat eine erhebliche Bedeutung für die Linkspartei", sagt auch Peter Ullrich, Antisemitismus- und Protestforscher an der Technischen Universität Berlin. In der politischen Linken träfen, insbesondere in Deutschland, zwei oft schwer zu vereinbarende Perspektiven aufeinander: die Ablehnung des Antisemitismus einerseits und die Solidarität mit den Palästinensern andererseits. "Auch innerhalb der Linkspartei gibt es Akteure, die jeweils eine der beiden Perspektiven in den Vordergrund stellen", sagt Ullrich.

Als 2011 eine Debatte um Antisemitismus in der Linken tobte, habe das die Partei an den Rand der Spaltung geführt, sagt Ullrich, der im Auftrag der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung mehrere Analysen über Antisemitismus und zum Nahostkonflikt geschrieben hat. "Gerade in der Bundestagsfraktion war die Stimmung so eisig, dass die verschiedenen Lager kaum miteinander gesprochen haben."

Im Oktober dieses Jahres verließen zehn Linken-Bundestagsabgeordnete die Partei und wechselten in das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht". Laut Soziologe Ullrich könnte das bedeuten, dass die "Exponenten einer klar pro-palästinensischen und antizionistischen Haltung womöglich an Einfluss" verlieren.

Der Grundkonflikt bleibe aber auch nach dem Austritt der lange bekanntesten Linken-Politikerin und ihrer Getreuen bestehen. Dabei bildeten Ortsverbände wie Berlin-Neukölln, in dem pro-palästinensische Mitglieder den Ton vorgeben, das eine Extrem, erklärt Ullrich. "Auf der anderen Seite stehen Persönlichkeiten wie Klaus Lederer, Petra Pau und andere, die eine primär antisemitismuskritische Perspektive und enge Verbindungen zu Israel haben."

Insgesamt sei die Grundlinie der Partei aber seit langem konstant, beobachtet Ullrich: "Die Verurteilung von Antisemitismus, aber auch der israelischen Besatzung sowie eine Forderung nach einer Friedenslösung." Das ist auch die Formel, auf die man sich in Augsburg geeinigt hat.

Experte zu Linken-Beschluss: "Durchaus eine Leistung"

"Stoppt den Krieg" heißt der Beschluss, der am Wochenende verabschiedet wurde und einen Kompromiss aus ursprünglich zwei eingereichten Anträgen bildet – einer mehr pro-israelisch, der andere pro-palästinensisch. Darin wird der Hamas-Angriff vom 7. Oktober klar als "Gräueltat" verurteilt und Israel gleichzeitig zur Einhaltung des Völkerrechts angehalten. In ihren Appellen wendet sich die Linke an beide Kriegsparteien: "Es braucht unverzüglich einen Waffenstillstand, um das Sterben zu beenden. Die Geiseln müssen sofort freigelassen werden." Man verurteile sowohl Antisemitismus als auch Rassismus gegen Muslime.

Mit diesen Einerseits-andererseits-Formulierungen dürften einige, die sich in dem internen Streit klar in einem der beiden Lager verorten, nicht glücklich sein. Dennoch wurde der Antrag mit einer großen Mehrheit der Delegierten angenommen.

"Auf dem Parteitag in Augsburg wurde deutlich, dass das Thema nach wie vor wichtig ist und polarisiert", resümiert Ullrich. Eine herausragende Bedeutung habe der Nahostkonflikt aber am Wochenende nicht eingenommen. "Man möchte den Fokus jetzt lieber auf den Parteiaufbruch legen und andere politische Themen besetzen."

Es sei beachtlich, dass man angesichts der gesamtgesellschaftlich hart geführten Debatte über den Nahostkonflikt überhaupt eine gemeinsame Linie gefunden habe, sagt Ullrich. "Das kann durchaus als eine Leistung betrachtet werden, die möglicherweise auch das Potenzial des Neuaufbruchs der Partei zeigt."

Die Zerreißprobe Nahostkonflikt hat die Linkspartei in Augsburg vorerst bestanden – wenn auch nicht mit Bravour.

Über den Gesprächspartner:

  • Dr. Dr. Peter Ullrich ist Soziologe und forscht an der Technischen Universität Berlin zu Antisemitismus sowie zu sozialen Bewegungen. Er ist Fellow am Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und Referent der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Für diese hat Ullrich mehrere Analysen über Antisemitismus und den Nahostkonflikt geschrieben.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Peter Ullrich
  • Beschluss der Linkspartei zum Nahostkonflikt
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