- Im August 2020 hat Belarus die größten Massendemonstrationen in seiner Geschichte erlebt.
- Diktator Alexander Lukaschenko ließ die Proteste brutal niederschlagen, zwölf Monate später traut sich in dem EU-Nachbarland kaum noch jemand auf die Straße.
- Viel verändert hat sich trotzdem.
Alaksiej Saprykin hat es nicht mehr länger in Belarus ausgehalten. Wegen der brutalen Reaktion des Regimes von Alexander Lukaschenko auf die Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl vor genau zwölf Monaten. Wegen "all dieses Blutes, all dieser Opfer" hat der Schauspieler und Künstler sein Heimatland verlassen, wie er erzählt.
Seit Ende vergangenen Jahres lebt der 29-Jährige im Ausland. "Meine psychische Gesundheit war irgendwie kaputt", sagt Saprykin in einer Sprachnachricht an unsere Redaktion, hörbar mitgenommen. Er musste raus. Raus aus Belarus, sich erholen, Abstand nehmen von der Situation. Aber insbesondere Abstand schaffen zu den Sicherheitskräften: "Ich wurde im Dezember festgenommen und zu 15 Tagen Haft verurteilt. Das war mein erstes Mal im Gefängnis – und es war absolut schrecklich."
Seit vergangenem August wurden Schätzungen des belarussischen Menschenrechtszentrums Wjasna zufolge über 35.000 Menschen inhaftiert. Die Organisation zählt über 600 politische Gefangene und Tausende Opfer, die in Gefangenschaft gefoltert und misshandelt wurden. Trotz aller Rückschläge zeigt sich die Demokratiebewegung des Landes aber weiter kämpferisch und blickt optimistisch in die Zukunft. Warum?
Tichanowskaja: "Belarus hat am 9. August eine Wahl getroffen"
"Vor einem Jahr am 9. August hat Belarus eine Wahl getroffen", sagte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in einer am Montag veröffentlichten Videobotschaft. "Auch ich habe diese Wahl getroffen. Und ich bin bereit, dafür Verantwortung zu tragen", sagte die 38-Jährige, die viele als tatsächliche Siegerin der Abstimmung sehen.
Anfängliche Hoffnungen, dass Belarus nach der Abstimmung bereits "an der Schwelle zu einem neuen, freien Leben" stehe, hätten sich mittlerweile zerschlagen, erklärte Tichanowskaja, die zur Flucht nach Litauen gezwungen wurde. "Mittlerweile wissen wir, dass auf eine Nation, die sich entschieden hat, frei zu sein, viel Arbeit wartet."
Die Opposition hat viele Enttäuschungen und Niederlagen einstecken müssen in den vergangenen zwölf Monaten. Gegen die Massenproteste, denen sich in den Wochen nach der Wahl teils Hunderttausende Menschen anschlossen, gingen die Sicherheitskräfte und der belarussische Geheimdienst KGB so rücksichtslos und teils willkürlich vor, dass sich nun fast niemand mehr auf die Straße traut. Die weiß-rot-weißen Fahnen des Widerstands sind etwa in Minsk weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden.
Die Proteste gehen weiter – nur anders
Doch der Protest lebt weiter. Im Internet, im Untergrund, bei Nacht. "Meine Stimmung ist sehr optimistisch", sagt die belarussische Frauenrechtsaktivistin Julia Mickiewicz im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie ist Mitglied des von Tichanowskaja initiierten Koordinierungsrates, der einen friedlichen Machttransfer in Belarus zum Ziel hat.
"Das Wichtigste ist, dass sich die Menschen in Belarus und ihr Geist verändert haben. Wir sind eine Nation der Zivilcourage und der Solidarität geworden und haben Gemeinschaften aufgebaut", sagt die 42-Jährige. Auch nachdem sie im vergangenen November in die litauische Hauptstadt Vilnius geflohen war, habe sie beobachten können, "wie sich Belarussinnen und Belarussen zusammengeschlossen haben, um sich gegenseitig zu helfen".
Wie der Schauspieler Saprykin saß Mickiewicz ebenso für 15 Tage im Gefängnis. Den Gerichtsprozess bezeichnet sie als "Zirkus". Weil sie Teil des oppositionellen Koordinierungsrates ist, wurde ihr "Extremismus" vorgeworfen, ihr drohten jahrelange Haft. "Deswegen ging ich nach Litauen – von dort kann ich besser wirken als im Gefängnis."
Warum Lukaschenko aus Sicht der Opposition schwach ist
Dass Lukaschenko zu immer repressiveren Mitteln greift – in den vergangenen Wochen wurden die letzten verbliebenen kritischen Stimmen im Land inhaftiert, unabhängige Medien und Organisationen geschlossen –, sieht Mickiewicz als Zeichen von Schwäche. "Er fühlt sich ganz offensichtlich nicht sehr sicher in seiner Position."
In welcher Parallelwelt der Staatschef lebt, zeigte er am Montag in einer über acht Stunden dauernden Marathon-Pressekonferenz: Die nach Polen geflohene Olympia-Sportlerin Kristina Timanowskaja stellte er als Marionette des Westens dar. Und an dem international vielbeachteten Tod des belarussischen Exil-Aktivisten Witali Schischko – "Wer ist das überhaupt?" – sei sein Staatsapparat natürlich nicht verwickelt, betonte Lukaschenko.
Er nutzte seinen live im Staatsfernsehen übertragenen Auftritt im Unabhängigkeitspalast in Minsk ebenfalls, um einmal mehr seine Wut über westliche Sanktionen gegen sein Land zu äußern. Im Falle neuer Strafen drohte er mit Gegenmaßnahmen. "Sie bringen uns in eine solche Situation, dass wir reagieren müssen. Und wir reagieren", sagte er.
Etwa zeitgleich weitete Großbritannien seine Strafmaßnahmen aus und zielte dabei unter anderem auf die für die Ex-Sowjetrepublik wichtige Kaliindustrie sowie auf Ölprodukte. Auch die USA erhöhten den Druck und richteten neue Sanktionen gegen Einzelpersonen und Einrichtungen des Landes.
Sehnsucht nach dem historischen Sommer 2020
Der seit nunmehr 27 Jahren herrschende Lukaschenko blieb vage, als es um die Frage ging, wie lange er noch im Amt bleiben werde. "Bald, sehr bald" werde er seinen Stuhl räumen, versicherte er – nur, um im gleichen Atemzug zu erklären, dass er sich nicht vorstellen könne, schon jetzt in Rente zu gehen. Bei der nächsten Präsidentenwahl wolle er nicht mehr kandidieren, sagte er – ließ aber offen, ob er dann die Besetzung anderer Ämter anstrebe.
Sowohl Mickiewicz als auch Saprykin glauben weiter an den Sieg der Demokratiebewegung. "Ich hoffe, dass dieser Moment näherkommt, vielleicht im kommenden Jahr, vielleicht sogar in diesem", sagt Saprykin. Er wünsche sich nichts mehr, als nach Hause zurückkehren zu können. "In ein neues Belarus. Ein Belarus, in dem wir leben wollen."
Etwa so, wie es für ein paar wenige Wochen schon war in diesem historischen Sommer 2020. Mit selbst organisierten Hinterhofkonzerten, bis dato nicht gekannter Freiheit auf den Straßen und landesweiter Verbundenheit, erinnert sich Saprykin. "Diese Atmosphäre, diese Leute. Alles war großartig."
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