Die Gegenoffensive der Ukraine ist noch in vollem Gange, schon kommt die Frage auf: Läuft alles nach Plan? Strategische Erfolge konnte Kiew bislang nicht verzeichnen, die Führung selbst mahnt zur Geduld. Militärexperte Gustav Gressel analysiert die Lage und erklärt, was den Ukrainern das Leben besonders schwermacht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Läuft die Gegenoffensive der Ukraine gut oder ist sie bereits zum Scheitern verurteilt? Beginnt sie erst? Was ist noch zu erwarten? Das Bild ist nicht eindeutig.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Sleensky räumte laut ZDF jüngst ein, dass die Gegenoffensive wegen des heftigen und zähen Widerstands der Russen langsamer vonstattengeht als von vielen erwartet. Optimistischere Töne gab es von Premierminister Denys Schmyhal. Inzwischen seien acht Dörfer und 113 Quadratkilometer besetzten Gebiets befreit worden, sagte er bei der Wiederaufbaukonferenz in London. "Das ist ein riesiges Territorium", sagte Schmyhal. Man erziele gute Ergebnisse, brauche aber Geduld.

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Experte: "Erste Phase der Bodenoperation"

Militärexperte Gustav Gressel beobachtet die Lage in der Ukraine täglich. "Wir sehen die erste Phase der Bodenoperation", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Beurteilen können Experten wie Gressel nur das, was öffentlich ersichtlich ist: Truppenbewegungen, Satellitenaufnahmen und Videos aus Kriegsgebieten zum Beispiel.

Hinzu kommen, stets mit Unsicherheiten behaftet, Meldungen aus Kiew und Moskau. Wie aber die Angriffspläne der ukrainischen Armee genau aussehen, ist nicht bekannt. Wie das aktuelle Lagebild zu den Plänen passt, bleibt also offen.

"Das Problem, das die Ukrainer haben, ist, dass die Ablenkungsmanöver um Belgorod nicht wirklich funktioniert haben", sagt Gressel. Die Russen würden keine wichtigen Truppen in den Norden abziehen, die zentral für die Kriegsführung in der Ukraine seien. "Damit ist die Dichte an Kräften im Raum viel höher, als es letzten Herbst der Fall war; der ganze Kampf ist viel mühsamer."

Mühsame Suche nach Schwachstellen

Nun versuche die Ukraine, mit ihren Kräften langsam auf die stärker ausgebauten Hauptstellungen zuzugehen. "Es gibt vor den Hauptstellungen sehr viele Minenfelder. Wenn man dort angelangt ist, beginnt die mühsame Suche nach den Schwachstellen", weiß Gressel. Die Russen würden sehr aggressiv verteidigen und dafür ihre noch intakten Manöververbände einsetzen, etwa Fallschirmjäger und mechanisierte Infanterie. "Die Frage ist, wie lange sie das durchhalten", kommentiert Gressel.

Wie hoch die Zahl der Verluste auf russischer Seite im Vergleich zur ukrainischen ist, lässt sich nicht gesichert sagen. Ebenso wenig, wie stark die russischen Reserven bei dieser zähen Verteidigung abschmelzen.

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Reserven in der Hinterhand

"Die ukrainische Verteidigungsministerin hat ein Verhältnis von 5:1 genannt, das wäre sehr optimistisch für die Ukraine. Da wäre ich skeptisch", meint Gressel. Allerdings habe die Ukraine größere Reserven. Ungefähr ein Drittel der Heeresreserven, die man für diese Operation aufgebaut habe, seien bislang ausgespielt worden. Von den zwölf neuen Armeebrigaden, die eigens für die Gegenoffensive aufgestellt wurden, sind bislang drei oder vier in die Schlacht gezogen. Und das nicht einmal in voller Stärke. "Die Ukraine hat also noch einiges in der Hinterhand."

Strategische Erfolge hat die Offensive bislang noch nicht gebracht. Allerdings hat Russland die Kontrolle über mehrere Dörfer verloren. Ebenso verzeichnet das russische Militär herbe Rückschläge bei der Munition: Am 21. Juli wurde ein besonders großes Munitionslager in Rykove zerstört. Hinzu kommt der Tod von Generalmajor Sergej Gorjatschow, dem Stabschef der 35. Armee.

Steile Lernkurve bei der Luftwaffe

"Man sieht intensive Gefechte, aber wenig Veränderung bei Gebietsgewinnen und -verlusten", sagt Gressel. Außerdem hätten die Russen dazugelernt, etwa im Bereich der Luftwaffe und der Heeresfliegerkräfte, etwa beim Einsatz von Kampfhubschraubern und Gleitbomben.

Russland habe zwar einige Hubschrauber, aber nicht viele Piloten verloren. Das bedeutet: "Der Erfahrungsschatz unter den Piloten und Offizieren ist relativ hoch. Sie konnten seit Kriegsbeginn alle Linien mitzeichnen", sagt Gressel. In anderen Bereichen seien viele Offiziere gefallen. Außerdem tauschten die Russen Piloten oft gegen ukrainische Kriegsgefangene ein.

Die Lernkurve bei der Luftwaffe und auch bei Drohnenkämpfen und der Artillerie sei steil. Hinzugelernt hätten die Russen auch beim Einsatz von Drohnen, den sie massiv ausgeweitet hätten. "Die Ukrainer waren den Russen zu Beginn des Krieges noch haushoch überlegen. Mittlerweile haben kommerzielle Drohnen auch bei den Russen Einzug gehalten", so Gressel.

Unterirdische Verkabelung als Hürde

Ein weiterer Aspekt: "Man hat alle Gefechtsstände unterirdisch verkabelt. Die ukrainische Funkaufklärung hat Schwierigkeiten herauszufinden, wo der Gegner steht, wie er zusammenhängt und wie die Kommandokette verläuft", sagt Gressel. Die Ukrainer würden sich behelfen, indem sie versuchen, die Russen zu Bewegungen zu zwingen. "Dann müssen die russischen Soldaten aus ihren Stellungen heraus. In dem Moment fangen sie an zu funken", erklärt der Experte.

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Viele Aktionen der Ukrainer erfolgen vor allem unter dem Aspekt der Aufklärung. "Man will gar nicht unbedingt einen großen Durchbruch schaffen, sondern man will den Gegner zur Reaktion zwingen", analysiert Gressel.

Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen:

  • zdf.de: Ukrainer treffen auf "erbitterten Widerstand"
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