Nach wochenlangem Flehen soll die Ukraine mehr Flugabwehr erhalten. Der Präsident zeigt sich zufrieden, bleibt aber zurückhaltend.
Die Nato hat der Ukraine weitere dringend benötigte Luftabwehr-Systeme zugesagt, aber zunächst keine konkreten Lieferfristen genannt. Entsprechend ließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach dieser Entscheidung des Verteidigungsbündnisses nur verhalten Zufriedenheit erkennen.
"Wir in der Ukraine schätzen die Bemühungen jedes Führers, jedes Staates, der wirklich aktiv ist, seine Versprechen einhält und versucht, die Fähigkeiten unserer Luftverteidigung zu verbessern", sagte Selenskyj am Freitagabend in seiner täglichen Videoansprache, die diesmal außergewöhnlich kurz gefasst war.
Nato verstärkt Unterstützung der Ukraine
Verteidigungsminister der Nato-Staaten hatten der Ukraine zuvor bei einer Krisensitzung mit Selenskyj die Lieferung zusätzlicher Luftverteidigungssysteme zugesagt. Das erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag im Anschluss an die per Videokonferenz abgehaltenen Beratungen in Brüssel. "Die Nato-Verteidigungsminister haben sich darauf geeinigt, ihre militärische Unterstützung zu verstärken und weiter auszubauen, auch im Bereich der Luftverteidigung", sagte er.
Welche Staaten die Zusagen gemacht haben, sagte der Norweger nach der Sitzung des sogenannten Nato-Ukraine-Rates zunächst nicht. Konkrete Ankündigungen sollen demnach in den nächsten Tagen durch einzelne Mitgliedstaaten gemacht werden. Länder, die selbst keine verfügbaren Luftverteidigungssysteme haben, sagten nach Angaben von Stoltenberg finanzielle Unterstützung für den Kauf von Systemen für die Ukraine zu. Die Bundesregierung hatte der Ukraine erst am vergangenen Wochenende die Lieferung eines dritten Patriot-Flugabwehrsystems aus deutschen Beständen zugesagt.
"Die Ukraine braucht Flugabwehr, und unsere Partner können dabei helfen", sagte Selenskyj. "Wir brauchen Artillerie, und die hat die Welt." Nur eine ausreichende Anzahl von Flugabwehrsystemen und Kampfflugzeugen könne die Ukraine vor den russischen Luftangriffen schützen. Selenskyjs Credo: "Lösungen sind nötig, Lösungen sind möglich."
Selenskyj: Mindestens sieben Patriot-Systeme notwendig
Konkrete Zahlen hatte Selenskyj bei seiner Videoschalte mit den Teilnehmern des Nato-Ukraine-Rates genannt. Sein Land benötige aktuell mindestens sieben weitere Patriot-Systeme oder ähnliche Flugabwehr-Unterstützung. "Und das ist die Mindestanzahl", sagte er. "Unsere Positionen auf dem Schlachtfeld brauchen wirklichen Schutz vor Luftschlägen." Das gelte auch für die Städte im ukrainischen Hinterland. Er erinnerte an die russischen Raketenangriffe auf die Großstadt Dnipro am Freitagmorgen und auf Anlagen im Odessa-Hafen Piwdennyj.
Seit Jahresbeginn habe Russland mehr als 1.200 Raketen auf Ziele in der Ukraine abgefeuert, sagte Selenskyj. Zudem seien mehr als 1.500 Kampfdrohnen iranischer Bauart eingesetzt worden. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es der ukrainischen Flugabwehr, die meisten davon abzuschießen. Doch gleichzeitig habe die russische Luftwaffe über 8.500 Gleitbomben eingesetzt, sagte Selenskyj - und gegen die gebe es bisher kein Gegenmittel.
Daneben benötige die Ukraine noch mindestens eine Million Artilleriegranaten. "Sie müssen endlich an die Front geliefert werden", forderte der ukrainische Staatschef. Er und seine führenden Militärs klagen seit Wochen über Munitionsmangel. Aus diesem Grund mussten ukrainische Truppen wiederholt Stellungen aufgeben und vor den russischen Einheiten zurückweichen. Die tschechische Regierung hat vor Wochen eine Initiative gestartet, um in verschiedenen Ländern Artilleriegeschosse für die Ukraine aufzutreiben.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) forderte die internationale Gemeinschaft am Freitagabend auf, der Ukraine angesichts des Vormarsches der russischen Besatzungstruppen umgehend mehr Waffen und Munition zu liefern. "Jetzt gibt es eine Lücke, diese Lücke ist aber endlich", sagte der Vizekanzler im ZDF-"heute-journal" nach einem Ukraine-Besuch in Moldau. "Im Moment ist es eine wirklich angespannte Situation. Das heißt, alle Länder, die helfen können, müssen jetzt helfen, nicht in fünf Monaten oder in zehn Monaten." Er hoffe, die USA würden sich bereit erklären, von ihren 60 Patriot-Flugabwehr-Systemen einen Teil der Ukraine zur Verfügung zu stellen.
Präsident erneut an der Front
Selenskyj inspizierte am Freitag die Fronten und Verteidigungsstellungen im Osten der Ukraine. Dabei besuchte er im Gebiet Donezk einen Kommandopunkt in der Nähe der umkämpften Stadt Tschassiw Jar. Er habe sich über die Lage unterrichten lassen, teilte er bei Telegram mit. Die Kleinstadt Tschassiw Jar gilt als nächstes Ziel der russischen Armee. Die Front verläuft wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Tschassiw Jar liegt unweit der vor knapp einem Jahr von den Russen nach schweren Kämpfen eingenommenen Stadt Bachmut.
Zum Abschluss seiner Frontbesuche kam Selenskyj nach Dnipro. Dort erkundigte er sich ebenfalls über die Sicherheitslage und Schutzmaßnahmen für die kritische Infrastruktur der Großstadt. "Es ist sehr wichtig, dass alle, die jetzt Hilfe brauchen, diese auch erhalten", schrieb er auf Telegram. "Und wir arbeiten mit unseren Partnern daran, zusätzliche Luftabwehr-Systeme für die Ukraine bereitzustellen." Zuletzt war Dnipro mehrfach Ziel russischer Luft- und Raketenangriffe.
Schwere Kämpfe bei Awdijiwka
Russische und ukrainische Truppen lieferten sich am Freitag schwere Gefechte in der Umgebung der Stadt Awdijiwka, die vor Wochen von den russischen Streitkräften erobert worden war. Während russische Militärs von erfolgreichen Vorstößen durch die ukrainischen Frontlinien berichteten, sprach die ukrainische Militärführung von erfolgreichen Abwehrkämpfen mit hohen Verlusten für die russische Seite. Die Behauptungen konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Das wird am Samstag wichtig
Der US-Kongress will am Samstag nach monatelanger Blockade wegen interner Machtkämpfe der Republikaner möglicherweise über ein militärisches Hilfspaket für die Ukraine in Milliardenhöhen entscheiden. Kiew ist auf die Hilfe im Umfang von 61 Milliarden Dollar (57 Milliarden Euro) dringend angewiesen. (dpa/sbi)
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