• Russland verstärkt die Angriffe im Osten der Ukraine.
  • Die Ukraine bereitet sich auf eine russische Offensive vor.
  • Die westlichen Panzerlieferungen treffen nach Meinung eines Militärexperten offenbar zu spät ein.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Lage scheint sich zuzuspitzen. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow erklärte dieser Tage, dass sein Land von einer russischen Offensive im Februar ausgehe. Auch der ukrainische Präsident Selenksyj machte in seiner Videobotschaft vom vergangenen Samstag klar, dass die Lage derzeit immer schwieriger werde. Die Ukraine sei an "einem Punkt, an dem die Besatzer zunehmend ihre Kräfte mobilisieren, um unsere Verteidigung zu durchbrechen".

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Ostukrainische Stadt Bachmut steht unter starkem Beschuss

Dass vonseiten Russlands verstärkte Angriffe bevorstehen könnten, glaubt auch Nico Lange, Sicherheits- und Militärexperte sowie Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz: "Russland intensiviert bereits jetzt die Angriffe und versucht die Initiative zurückzugewinnen. Ob Russland die Fähigkeit zu großen Angriffen hat, ist zweifelhaft." Die lokalen Angriffe an einzelnen Abschnitten der Front hätten jedoch bereits begonnen.

Unter besonders starkem Beschuss steht derzeit die Stadt Bachmut in der Region Donezk. Dort seien den russischen Streitkräften nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums zuletzt einige Fortschritte gelungen. So hätte die russische Armee die wesentlichen Zufahrtsstraßen zur Stadt unter Beschuss genommen. Derweil versucht die russische Führung unter Beweis zu stellen, dass die von ihr annektierten Gebiete im Ostteil der Ukraine ihrer Ansicht nach zum russischen Territorium gehören. So sollen in diesen von Russland annektierten Gebieten im September dieses Jahres Wahlen abgehalten werden, wie das britische Verteidigungsministerium meldet.

Russland will die Ukraine zwingen, ihre Reserven einzusetzen

Es sind gerade jene Regionen, in denen aktuell besonders hart gekämpft wird. Mit immer neuen Angriffen verfolgen die russischen Streitkräfte gleich mehrere Ziele, erklärt Nico Lange. "Den russischen Streitkräften geht es darum, im Donbas weitere Gebiete zu erobern. Außerdem wollen die Russen die ukrainischen Reserven zum Einsatz zwingen, damit die Ukraine keine Gegenangriffe für Rückeroberungen starten kann." Zudem warnt der Experte, dass Russland auch weiter auf Terror gegen die Zivilbevölkerung setzen werde. So wie es bereits in Charkiw, Kramatorsk und Cherson geschehe.

Bisher komme die aktuelle Taktik der russischen Kriegsführung der Ukraine jedoch noch entgegen, erklärt der Experte Lange. "Russland greift bisher genau dort an, wo die Ukrainer damit rechnen und gute Stellungen zur Verteidigung vorbereitet haben. Deshalb erleidet Russland bei diesen Angriffen sehr hohe Verluste." Dies könne sich jedoch ändern, wenn die Russen ihre Vorgehensweise anpassen würden. Wenn es zu neuen Angriffen in Richtung der Städte Charkiw oder Sumy kommen würde, sähe die Lage anders aus, beschreibt Lange. Dies gelte auch, wenn gar die ukrainische Hauptstadt Kiew durch russische Truppen von Belarus aus angegriffen würde.

Experte: Der Westen müsste mehr Munition und Drohnen liefern

Nach wochenlangen Panzerdebatten hierzulande hat die Ukraine nun Kampfpanzer unter anderem aus deutschen Beständen zugesagt bekommen. Fraglich ist jedoch, inwieweit diese Waffen der ukrainischen Armee bei einer möglichen bevorstehenden russischen Offensive helfen können. Nico Lange ist skeptisch. "Leider kommen Kampfpanzer zu spät in der Ukraine an," sagt der Experte. Gleiches gelte für die Schützenpanzer. Besonders gefährlich sei nun für die Ukraine die Phase, in der die Waffen noch auf sich warten ließen. Diesen Zeitraum müsste die ukrainische Armee überbrücken, ohne die aus dem Westen zugesagten Kampfgeräte für ihre Einsätze nutzen zu können.

Dementsprechend sollte der Westen mehr tun, um der Ukraine zu helfen, sagt Nico Lange. "Schnell mehr Munition zu liefern ist wichtig", fordert der Experte. Zudem bräuchte die Ukraine Drohnen. Auch die Erhöhung der Produktionskapazitäten in Deutschland würde ein sehr wichtiges Signal an Putin senden, erklärt Lange.

Wie aus russischer Sicht ein positives Ergebnis einer möglichen russischen Offensive überhaupt aussehen könnte, kann Nico Lange derzeit nicht erkennen. Russland habe keines seiner Kriegsziele erreicht. Die einzige besetzte Großstadt habe Russland zudem wieder an die Ukraine verloren, sagt Lange und zieht eine ernüchternde Schlussfolgerung: "Es scheint fast, als ginge es Russland nur darum, den Krieg um jeden Preis fortzusetzen, selbst wenn keine strategischen Ziele erreichbar sind."

Über den Experten: Nico Lange ist Senior Fellow in der Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Von 2019 bis 2022 war er Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Davor leitete er das Auslandsbüro Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew. Er lehrte und forschte zudem in St. Petersburg in Russland.

Verwendete Quellen:

  • UK Mnistery of Defence- Defence Intelligence: Ukraine Update vom 5. und 6. Februar 2023
  • Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskjy von 5. Februar 2023
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