Bereits seit sechs Monaten tobt der Gaza-Krieg. Israel verliert zunehmend den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft. Doch ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht.
Tiefstes Leid ist seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober über die Region gekommen. Die Bilanz auf palästinensischer Seite: Mehr als 32.800 Tote, so die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde. Schlimmste Verwüstungen im Gazastreifen, ein Großteil der 2,2 Millionen Einwohner des Küstenstreifens haben kein Heim mehr und viele leiden unter Hunger.
In Israel haben viele Menschen mit den traumatischen Folgen des schlimmsten Massakers in der Geschichte des jüdischen Staates zu kämpfen. Es ist der längste und blutigste Krieg Israels seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948 – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Gaza-Binnenflüchtlinge leiden unter dem Krieg
Die 35-jährige Om Mohammed Helles lebt mit ihren sechs Kindern unter erbärmlichen Bedingungen in einem Zelt in Deir al-Balah im zentralen Abschnitt des Gazastreifens. Wie oft sie mit ihrer Familie seit Kriegsbeginn schon vor den israelischen Angriffen und Kämpfen fliehen musste, kann sie kaum noch zählen.
Helles stammt aus Beit Lahia im Norden des Küstenstreifens. Sie sei von dort erst in die Stadt Gaza geflohen, dann nach Deir al-Balah und von dort in eine UN-Schule in Chan Junis im Süden, erzählt sie. "Als die Armee ihren Einsatz in Chan Junis begann, musste ich nach Rafah fliehen." Angesichts israelischer Drohungen vor einer Offensive in der Grenzstadt zu Ägypten sei sie dann wieder nach Deir al-Balah gekommen.
Sie und ihre Kinder hätten oft Hunger, klagt die Frau. "Wegen der engen Wohnverhältnisse unter den Flüchtlingen sind die Zelte von Abwasser umgeben." Die Kinder seien deshalb oft krank und hätten Hautausschlag. Sie seien von humanitärer Hilfe abhängig. Doch das Essen sei knapp. "Ich bin oft gezwungen, meine Kinder mit einer Suppe aus Wasser, Salz und etwas Gemüse zu ernähren", sagt Helles.
"Ich habe vor vier Monaten einen Sohn zur Welt gebracht, aber ich habe kein Geld, um Milch für mein Baby zu kaufen. Wir sind wegen dieses Krieges unserer Menschenrechte beraubt, obwohl wir Zivilisten sind und keine Schuld an dem Krieg haben."
Leid der Geiseln nimmt kein Ende
Eine 26-jährige Israelin dagegen ist Opfer des brutalen Angriffs der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Gruppen, der den Krieg vor sechs Monaten ausgelöst hatte.
Gemeinsam mit mehr als 250 anderen Menschen wurde die junge Frau am 7. Oktober von Terroristen in den Gazastreifen verschleppt und wird dort noch immer festgehalten. Ihre aus China stammende Mutter hat Krebs im Endstadium und nur einen letzten Wunsch: Ihre Tochter noch einmal im Arm halten zu dürfen.
"Mein Herz schmerzt sehr", sagt die von der Krankheit gezeichnete Frau in einem Video, in dem sie um die Freilassung ihrer Tochter bittet. "Meine Zeit läuft ab, ich stehe zwischen Leben und Tod." An US-Präsident Joe Biden gerichtet sagt sie: "Ich flehe Sie an, bitte helfen Sie mir."
Eine andere von der Hamas entführte Israelin hatte zuletzt als erstes Opfer der Islamisten öffentlich über dort erlittenen sexuellen Missbrauch und Folter gesprochen. Sie sei während ihrer Gefangenschaft immer wieder tätlichen Angriffen, Folter, Demütigungen und angsteinflößenden Situationen ausgesetzt gewesen, sagte die 40-Jährige der "New York Times".
Ende November, als Israel und die Hamas 110 Geiseln gegen rund 400 palästinensische Häftlinge austauschten, war sie freigekommen. Auch ihre Geschichte hat wohl dazu beigetragen, dass die Proteste der Angehörigen der Geiseln zuletzt immer wütender und fordernder wurden.
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Beispielloser Krieg in Israels Geschichte
Professor Kobi Michael vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) sieht den Gaza-Krieg als beispiellos in der Geschichte. Es sei ein außergewöhnlich langer Krieg in einem Gebiet mit extrem hoher Bevölkerungsdichte - gegen eine Terrororganisation, die über Jahre ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut habe.
Der Kampf gegen die Hamas ist besonders schwer, weil diese sich in einem riesigen unterirdischen Tunnelnetzwerk regelrecht unter der Zivilbevölkerung "eingegraben" hat.
Unter rein militärischen Gesichtspunkten sieht Michael zwar "beeindruckende Errungenschaften" der israelischen Armee im Kampf gegen die Hamas. Mit Blick auf die Sicht der internationalen Gemeinschaft auf den Konflikt habe die Hamas jedoch einen klaren Vorteil.
"Das Massaker vom 7. Oktober ist schnell in Vergessenheit geraten, stattdessen konzentriert sich das Mitleid auf die palästinensische Zivilbevölkerung", meint er.
Kritik an Israel wächst
Israel zahle auch einen Preis dafür, dass der Krieg im Wahljahr in den USA stattfinde. Zu Beginn hatte sich US-Präsident Joe Biden demonstrativ an Israels Seite gestellt. Unter dem Eindruck der hohen Zahl auch ziviler Opfer im Gazastreifen verschlechterte sich sein Verhältnis zum israelischen Ministerpräsidenten
Professor Eitan Gilboa von der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv spricht von einer "schweren Krise zwischen Israel und den USA". Das Resultat sei, dass Israel "keinen automatischen Schutz mehr im Weltsicherheitsrat" habe. Die Medien in Israel zeigten nur selten die Zerstörungen im Gazastreifen, sagt er einem israelischen Radiosender.
"Was man in Gaza sieht, ist wie das, was man in der Ukraine sieht." Im Blick der internationalen Gemeinschaft sei Israel nach dem Massaker der Hamas zunächst ähnlich wie die Ukraine angesehen worden. "Und nun sind wir zu Putin und Russland geworden, die Bösen in der Geschichte."
Professor Michael sieht den Krieg vor allem als Teil des Konflikts mit der sogenannten "Achse des Widerstands", die der Iran als Erzfeind des jüdischen Staates aufgebaut hat. Seit Kriegsbeginn ist Israel auch Angriffen der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah und der Huthi-Rebellen im Jemen ausgesetzt.
Ständige Gefechte Israels mit der Hisbollah
Metulla, ein malerischer Ort im galiläischen Hügelland, ist von drei Seiten vom Libanon umschlossen. In kleinen Gärten reifen an den Bäumen die Zitronen, vor schmucken Häusern werben Schilder für "Bed & Breakfast" (Zimmer mit Frühstück). Doch es ist keine Menschenseele zu sehen. Viele Häuser weisen Raketen- und Granateinschläge auf, manche liegen ganz in Trümmern.
Seit dem 8. Oktober schießt die Hisbollah aus dem Libanon mit Raketen, Artillerie- und Panzerabwehrgranaten auf den Norden Israels. Aus "Solidarität" mit der Hamas im Gazastreifen, wie sie vorgibt.
Israel bekämpft mit Luft- und Artillerieangriffen die Stellungen der Hisbollah, die nach einem UN-Sicherheitsratsbeschluss gar nicht so nahe an der Grenze sein dürften. 60.000 Bewohner aus dem Norden hat Israels Regierung ins Landesinnere evakuiert. Im Südlibanon verließen 90.000 Menschen die Kampfzone.
"Ich bin der einzige Zivilist hier", sagt David Azulai, der Bezirkschef von Metulla, zu einer Gruppe von Journalisten. "Hier gibt es keinen Fremdenverkehr, keine Landwirtschaft, niemanden, um die Äpfel zu ernten."
"Absicht der Hisbollah ist es, eine für Israel unerträgliche Situation zu schaffen", sagt Sarit Zehavi, die in Tefen im Norden Israels die Denkfabrik Alma Center leitet. Beide Seiten trachten danach, eine große Eskalation zu vermeiden - das beidseitige Zerstörungspotenzial ist groß.
Die vom Iran unterstützte und aufgerüstete Hisbollah verfügt über mehr als 200.000 Raketen, darunter viele mit einer größeren Reichweite.
Ein Waffenstillstand in Gaza könnte die Hisbollah zur Einstellung ihrer Angriffe bewegen. Frieden könne es aber nur geben, betont Zehavi, wenn die Hisbollah in dem 30 Kilometer breiten Streifen zwischen der Staatsgrenze und dem Fluss Litani entwaffnet sei. Andernfalls gebe es keine Sicherheit für die Israelis im Norden des Landes.
Gaza: Kein Plan für den "Tag danach"
Der israelische Ministerpräsident Netanjahu lehnt bisher jeglichen Plan für "den Tag danach" ab, der eine Übergabe der Macht im Gazastreifen in palästinensische Hände vorsieht.
Professor Michael meint, eine regionale Vereinbarung mit arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und Ägypten könne längerfristig den Weg bereiten für einen Wiederaufbau des Gazastreifens mit Ausblick auf eine palästinensische Staatlichkeit.
Dies sei jedoch nur mit einer tiefgehenden Reform der palästinensischen Autonomiebehörde und einem radikalen Wandel innerhalb der palästinensischen Gesellschaft denkbar. Die Hamas sei tief in der Bevölkerung des Gazastreifens verwurzelt.
Mehrheit der Palästinenser unterstützt Massaker vom 7. Oktober
Eine große Mehrheit von 71 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland unterstützen den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober laut einer Umfrage in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung.
93 Prozent der Befragten glaubten bei der Befragung des als seriös geltenden palästinensischen Umfrageinstituts PSR nicht, dass die Hamas Gräueltaten an Zivilisten begangen hat. 59 Prozent waren überzeugt, dass die Hamas auch nach dem Krieg im Gazastreifen herrschen wird und unterstützten dies auch.
Nur elf Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, dass die Palästinenserbehörde unter der Führung des Präsidenten Mahmud Abbas die Kontrolle übernimmt. Für die Erhebung wurden vom 5. bis 10. März 1580 Erwachsene im Gazastreifen und Westjordanland befragt.
Die Haltung Deutschlands zum Gaza-Krieg
Und wie steht Deutschland zum Gaza-Krieg? Der Israel-Experte Stephan Vopel von der Bertelsmann Stiftung sieht einen klaren Unterschied zwischen der Haltung der Bundesregierung und der Bevölkerung.
Die Unterstützung der Regierung, "begründet mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels, aber auch mit den auf der Schoah basierenden besonderen Beziehungen zu Israel und dem jüdischen Volk, denen zufolge Israels Sicherheit Teil der "Staatsräson“ Deutschlands sei", werde von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Grundsatz nicht geteilt.
"Für sie ist Israel, wenn schon kein Staat wie jeder andere, so doch wie jeder andere Staat zu behandeln", sagt Vopel. "Hinzu kommt, dass die Kriegsführung Israels gegen die Hamas und die daraus resultierenden hohen Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung in den Augen der meisten Betrachter schon sehr schnell nach dem 7. Oktober die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu Ungunsten Israels zu beantworten schien." (dpa/nib)
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