- Olga Rudenko ist Chefredakteurin des ukrainischen Online-Magazins "Kyiv Independent".
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über das Deutschland-Bild in der Ukraine und die journalistische Unabhängigkeit in Kriegszeiten.
- Rudenko sagt: "In den ersten Monaten haben die ukrainischen Medien die Regierung zu wenig hinterfragt."
In den ersten Stunden des 24. Februar 2022 schrieb Olga Rudenko den Artikel, den sie nie schreiben wollte: Russland hat der Ukraine den Krieg erklärt. Es gab zu diesem Zeitpunkt zunächst nur Andeutungen: Geheimdienstberichte und eine bedrohliche Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Chefredakteurin des "Kyiv Independent" sicherte ihren ersten Entwurf. Sie betete, dass sie die Dinge falsch verstanden hatte, dass sie den Artikel nie veröffentlichen müsste. Doch es kam bekanntlich anders.
Inzwischen tobt der russische Krieg in der Ukraine schon mehr als ein halbes Jahr. Olga Rudenko hat die mühsame Reise auf sich genommen, um bei der internationalen Medienkonferenz M100 Sanssouci Colloquium in Potsdam die Eröffnungsrede zu halten. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über die ukrainische Hoffnung auf deutsche Waffen – und über die schwierige Aufgabe, in Kriegszeiten die Unabhängigkeit des Journalismus zu verteidigen.
Frau Rudenko, in den letzten Tagen gab es für Ihr Land positive Meldungen von der Front im Osten und Süden: Die ukrainische Armee hat zahlreiche Gebiete von Russland zurückerobert. Sind Sie optimistisch, dass der Krieg bald ein Ende hat?
Olga Rudenko: Es ist immer gut, optimistisch zu sein. Aber Russland hat immer noch genug Macht und genug Soldaten, um es zumindest weiter zu versuchen. Wir – die Ukraine und der Westen – können diesen Krieg nur gemeinsam beenden: wenn der Westen der Ukraine die Waffen liefert, die wir brauchen. Die Nachrichten der vergangenen Tage haben bewiesen, dass Ukrainer diese Waffen sehr gut bedienen können. Mit mehr Waffen wird die Ukraine diesen Krieg beenden und Russland aus dem Land vertreiben.
Glauben Sie nicht, dass Verhandlungen der bessere Weg sind?
Ich kann Ihnen sagen: Die Ukrainer werden keine Zugeständnisse machen. Westliche Kommentatoren schreiben immer wieder: Die Ukrainer sollen eine Verhandlungslösung mit Russland suchen. Sie haben die Ukraine nicht verstanden. Wenn
Olga Rudenko: "Deutschland sticht für die ukrainische Öffentlichkeit definitiv heraus"
Welche Rolle spielt Deutschland in den Augen der Ukrainerinnen und Ukrainer?
Deutschland sticht für die ukrainische Öffentlichkeit definitiv heraus. Es tut mir leid, wenn ich das sagen muss. Aber Ukrainer nehmen vor allem die Zurückweisungen wahr. Es hat einige Enttäuschungen gegeben, als Deutschland Waffenlieferungen abgelehnt oder verzögert hat. Deutschland hat sich durch seine Haltung gegenüber Russland in der Vergangenheit wirtschaftliche Vorteile verschafft, die zu Kosten der internationalen Sicherheit gingen. Außenministerin Annalena Baerbock war am vergangenen Wochenende in Kiew. Dort hat sie gesagt: Es gab nie billiges Gas aus Russland, es wurde immer mit ukrainischen Leben bezahlt. So sehen wir das auch.
In der Europäischen Union haben viele Menschen Angst vor einem kalten Winter, machen sich Sorgen wegen der wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges.
Wir stehen in der Ukraine auch vor einem sehr schwierigen Winter. Es wird kälter sein in unseren Wohnungen, aber es werden auch Granaten auf unsere Wohnungen fallen. Vielleicht wird es eine neue russische Offensive geben. Die Deutschen müssen verstehen: Der Krieg ist nicht so weit weg, wie es scheint. Der Krieg kann auch hierherkommen. Das mag verrückt klingen – aber wir dachten doch auch, dass es uns nicht betreffen würde. Ich habe auf der Fahrt nach Deutschland ein Buch von Stefan Zweig gelesen, dem österreichischen Schriftsteller. Er beschreibt im ersten Kapitel die Stimmung zu einer Zeit im 19. Jahrhundert, als die Menschen dachten, dass Kriege der Vergangenheit angehören. Der Frieden in Europa schien damals unzerstörbar – aber er war es nicht. Das hätte man genauso in unserer Zeit schreiben können. Frieden ist nie garantiert, Frieden ist fragil.
"Wir wurden als Verräter beschimpft"
Sie sind Chefredakteurin des englischsprachigen "Kyiv Independent". Das Online-Magazin wurde gegründet, nachdem Sie und Kollegen 2021 von der "Kyiv Post" gefeuert wurden, weil Sie Ihre journalistische Unabhängigkeit bewahren wollten. Sind die ukrainischen Medien kritisch genug, wenn es um die eigene Regierung geht?
In den ersten Monaten des Krieges haben die ukrainischen Medien die Regierung zu wenig hinterfragt. Der Fokus lag ausschließlich auf dem Krieg. Alle waren im Überlebensmodus. Die ersten Wochen waren eine Zeit, in der auch wir uns komplett auf der Seite der Regierung gefühlt haben. Wir saßen alle im gleichen Boot. Aber die Dinge ändern sich. Die Menschen stellen jetzt mehr Fragen – zum Beispiel, ob die Regierung das Land eigentlich auf so einen Krieg vorbereitet hat. Das gilt auch für die Medien. Es werden Recherchen zur Arbeit der Regierung veröffentlicht, und es ist nur der Anfang.
Auch Ihr Medium setzt sich kritisch mit der ukrainischen Regierung und Armee auseinander. Im August haben Sie eine Recherche zu Missständen in der internationalen Legion der ukrainischen Streitkräfte veröffentlicht. Ausländische Kämpfer werfen der Führung dieser Legion Machtmissbrauch, Misshandlungen und Diebstahl vor.
Wir wurden deswegen zum Teil als Verräter beschimpft. Aber wir sind überzeugt, dass es richtig war, diese Recherchen zu veröffentlichen. Wenn man von diesen Missständen erfährt, wäre es unverantwortlich, sie unter den Tisch fallen zu lassen. Damit hätten wir unsere journalistischen Werte verraten. Außerdem hilft es langfristig dem Land, wenn diese Missstände benannt werden.
Medien müssen Regierungen kritisch begleiten. Gleichzeitig wollen Sie in diesem Krieg sicherlich nicht den russischen Invasoren in die Hände spielen. Wie schwer ist es, eine Balance zu finden?
Ich würde eher sagen: Es ist jeden Tag aufs Neue schwierig, eine Balance zu finden zwischen der Rolle als Bürger und als Journalist. Was Russland angeht: Sie haben diese Artikel für ihren Desinformationskrieg gar nicht nötig. Sie erfinden ihre eigenen Geschichten. Darin sind sie sehr gut. Sie erfinden Geschichten von ukrainischen Laboren, in denen Vögel mit Krankheiten infiziert und nach Russland geschickt werden. Wir dürfen uns nicht die Frage stellen: Was wird Russland mit diesen Informationen anstellen? Das führt nirgendwo hin.
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