Mobbing, Entgiftung, Trauerarbeit: Nach dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles scheint die Stunde der Psychologen zu schlagen. Ist Mobbing der richtige Begriff, wenn in der Parteipolitik die Fetzen fliegen?
Die SPD leckt sich nach dem bitteren Rücktritt von Andrea Nahles die Wunden. Als Reaktion auf Wahlniederlagen und Dauerkritik aus den eigenen Reihen hat die Partei- und Fraktionschefin die Machtfrage gestellt - und schließlich das Handtuch geworfen.
Ein offener Widersacher wie
Wurde Andrea Nahles weggemobbt? Findet zumindest Sahra Wagenknecht
Linksfraktionschefin
Wagenknecht glaubt auch, dass Frauen es grundsätzlich schwerer haben in politischen Führungspositionen. Es sei zwar schon so, dass so etwas wie
Kurt Beck: Gibt Leute, die alte Rechnungen begleichen wollen
Kurt Beck kennt den bitteren Geschmack der Niederlage. Der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wurde 2008 als SPD-Bundesvorsitzender demontiert. "Da gibt es sicher die, die irgendwelche alten Rechnungen auf diese Art und Weise begleichen wollen", sagt er. Auch gebe es die Furcht um das eigene Mandat, wenn die Umfrageergebnisse oder Wahlergebnisse nicht gut sind. "Bei einigen ist es schlicht und einfach eine Angewohnheit, die ich für absolut illoyal halte", sagt Beck.
In der SPD würden die Erwartungen an die jeweiligen Vorsitzenden "ins Unermessliche gesteigert", sagt Beck. Über Medien multipliziere sich dies, Social Media beschleunige den Prozess. Es gebe nun "zusätzliche Möglichkeiten, hintenrum zu spielen". Aber gezieltes Mobbing gegen Frauen? Beck sieht keine wirklichen Ansatzpunkte dafür. "
Ehemalige SPD-Chefin trug selbst zur Eskalation bei
Zum Umgang in der Politik zählt allerdings auch die Machtstrategie von Nahles selbst. Zur Eskalation trug bei, dass sie sich vor allem mit ihren Vertrauten umgab und so wenig empfänglich für Kritik und andere Ansichten war - so beschreiben es jedenfalls Abgeordnete und andere Beobachter.
So staute sich der Unmut über Monate auf. Dann kam der Versuch der Vorwärtsverteidigung am Tag nach der Wahl, die Vertrauensfrage, die das Fass zum Überlaufen brachte. Davon war sie nicht mehr abzubringen.
Der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmer Stephan Lamby, ein genauer Beobachter des politischen Betriebs in Berlin, sieht den Rückzug von Nahles auch als Folge eines immer schärferen Umgangstons unter Spitzenpolitikern. "Der Druck, der intern auf sie ausgeübt wurde, war enorm. Sie konnte sich dem nicht mehr entziehen", sagt Lamby. Viele ihrer parteiinternen Kritiker hätten jede Zurückhaltung aufgegeben.
"Es ist die übliche Härte der Politik - und die ist alles andere als neu. Daher sollte man jetzt nicht so tun, als wäre das ein ungewöhnliches Phänomen", sagt Lamby aber auch. "Man sollte auch nicht so tun, als wären da vor allem Männer über eine Politikerin hergefallen, weil sie eine Frau ist."
Teamarbeit? Gibt es in der Politik fast nicht
Der Spitzenmanager Thomas Sattelberger sitzt seit 2017 für die FDP im Bundestag und kritisiert einen "Sozialdarwinismus" im politischen Karrierebetrieb. "Manager arbeiten auch nicht mit Samthandschuhen - aber die Rücksichtslosigkeit in der Politik ist größer", sagt der 69-Jährige. Sozialdarwinismus ist, vereinfacht gesagt, die Theorie einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt. Sattelberger war zuvor unter anderem Personalvorstand bei Continental und der Telekom.
"Viele Unternehmen legen sehr großen Wert auf Teamarbeit und eine Feedbackkultur - das ist in der Politik wenig ausgeprägt", sagt er.
Psychologe: Sozialdemokratie hat Problem mit Führungsfiguren
Die deutsche Sozialdemokratie habe allerdings ein grundsätzliches Problem mit ihren Führungsfiguren, meint der Psychologe Stephan Grünewald, Autor des Buchs "Wie tickt Deutschland?". Derjenige, der Erster unter Gleichen sei, durchbreche die Gleichheit der Brüder.
"Und dem begegnet man tendenziell mit Argwohn. Man braucht dann schon Vaterfiguren wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt, die von der Brüdergemeinschaft akzeptiert werden - jedenfalls solange sie im Zenit ihrer Macht stehen." Dagegen sei die CDU eine Unternehmerpartei mit patriarchischen Zügen.
SPD hat an Strahlkraft verloren
Vor zwei Jahren habe die SPD mit Martin Schulz, Sigmar Gabriel und Hannelore Kraft noch über Persönlichkeiten mit einer gewissen Strahlkraft verfügt, meint Grünewald. Doch mittlerweile seien sie alle in der Versenkung verschwunden.
Solange sich die Partei mit sich selbst beschäftige, müsse sie sich nicht mit der Kränkung auseinandersetzen, dass nur noch 15 Prozent der Wähler mit ihr etwas anfangen können. "Hier wären Trauerarbeit und eine inhaltliche Neuausrichtung wichtig", rät er.
Durch die vielen Führungswechsel sieht der Psychologe die SPD mittlerweile zudem in einem Dilemma, das ihn an die russischen Matrjoschka-Puppen erinnere: "Sie köpfen immer eine Führungsfigur und ziehen dann eine kleinere hervor. Das geht jetzt schon seit 20 Jahren, und jetzt sind wir bei Andrea Nahles angekommen."
Am Dienstag verschwand Nahles nach einer kurzen Rücktrittserklärung in der Fraktion durch einen Hinterausgang. (msc/dpa)
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