- Für Insider kommt der Totalrückzug des österreichischen Altkanzlers nicht überraschend.
- Kurz hat erkannt, dass eine Rückkehr an die Regierungsspitze ausgeschlossen ist.
Bei seinem finalen Abgang nahm der frühere Shootingstar der österreichischen Konservativen offenbar Anleihen bei Richard Nixon: "I am not a crook", sagte der einstige US-Präsident vor gut einem halben Jahrhundert bei seiner letzten Presskonferenz vor dem Weißen Haus. Er sei kein Gauner. Nixon war über die Watergate-Affäre, einen Abhörskandal, gestolpert.
Kurz hingegen musste vor sechs Wochen wegen einer Chat-Affäre den Hut nehmen: WhatsApp-Nachrichten legen Korruption in seinem engsten Umfeld nahe.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Kurz. Erst legte er die Kanzlerschaft nieder, wechselte aber als Fraktionsvorsitzender der konservativen ÖVP in das Parlament, vergangene Woche schließlich zog er sich aus allen politischen Ämtern zurück: "Ich bin kein Heiliger aber auch kein Verbrecher", sagte Kurz zum Abschied.
Der eigentliche Grund für seinen Totalrückzug sei aber ein anderer: Der 35-jährige Kurz ist unlängst Vater eines Sohnes geworden. Nun, so erklärte er, wolle er sich ganz seiner Familie widmen. Ist das eine glaubwürdige Erklärung?
Zumindest einige seiner Parteifreundinnen und Parteifreunde geben sich damit zufrieden: "Beeindruckend" nannte die frühere ÖVP-Ministerin Maria Rauch-Kallath die Abschiedsrede des Altkanzlers im Interview mit dem ORF. "Sie war emotional und ehrlich, das muss ihm erst jemand nachmachen."
Aber auch Rauch-Kallath räumte ein, dass es Kurz wohl nicht nur darum ging, mehr Zeit mit seinem Filius zu verbringen: "Er hat erkannt, dass die Untersuchungen gegen ihn Jahre dauern könnten. Das wollte er seiner Familie nicht zumuten." Nachsatz: "Er hat auch gewusst, dass das die ÖVP nicht aushalten wird."
"Das Volk hat sich in großem Ausmaß von Kurz abgewandt"
Was Rauch-Kallath damit andeutet: Der einst jüngste Kanzler aller Zeiten ist zur Belastung für seine Partei geworden, die sich als einzige Staatspartei Österreichs versteht. Denn es sind keine Lappalien, deren Kurz verdächtigt wird: Neben Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss – worauf in Österreich bis zu drei Jahre Haft stehen – steht der Verdacht von Bestechlichkeit und Untreue im Raum.
Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass Kurz – wie einst Nixon – über die verbotenen Machenschaften seiner Vertrauten genau informiert war.
Der Kommunikationsberater Rudolf Fußi legt im Gespräch mit unserer Redaktion nach: "Kurz hat seine Perspektivenlosigkeit erkannt. In seiner Umgebung hat man eine Zeitlang die Augen vor der Realität verschlossen und gehofft, dass sich eine Rückkehr ins Kanzleramt noch ausgeht."
Nun aber habe man erkannt, dass das Spiel aus sei. Ausschlaggebend seien nicht zuletzt die verheerenden Umfragewerte für Kurz gewesen: "Das Volk, das ihn einst verehrte, hat sich jetzt in großem Ausmaß von ihm abgewandt."
Und darin liegt eine gewisse Ironie: Wie kein Spitzenpolitiker vor ihm hatte Kurz seine Politik an Meinungsumfragen ausgerichtet. "Message control" hieß die Methode Kurz im Wiener Polit-Jargon: Möglichst populäre Botschaften in einfachen Worten, die sich stets an den Ergebnissen von Umfragen orientierten.
Jahrelang hatten sich seine politischen Gegnerinnen und Gegner an ihm die Zähne ausgebissen, weil er stets das Ohr am Volk hatte.
Nun aber vermitteln die Umfragen, dass es für ihn vorbei ist – zumindest für eine lange Zeit. Bei dem vom Umfrageinstitut Unique Research im November erhobenen Vertrauenswerten für Spitzenpolitiker schnitt Kurz verheerend ab: 57 Prozent der Befragten gaben an, eine schlechte Meinung von ihm zu haben, nur neun Prozent waren weiterhin vom Ex-Kanzler überzeugt.
Noch vor einem halben Jahr hatte die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher eine gute Meinung von Kurz.
Sebastian Kurz: Korruptionsskandal und missglücktes Corona-Management
Der Abstieg des türkisen Hoffnungsträgers sei aber nicht nur dem Korruptionsskandal rund um mutmaßlich mit Steuergeld gekaufter Berichterstattung der Boulevardzeitung "Österreich" geschuldet, glaubt Politikberater Fußi. Letztlich sei Kurz das missglückte Management der Corona-Pandemie um die Ohren geflogen.
Noch im September hatte er als Kanzler die Pandemie für beendet erklärt – zumindest für Geimpfte. Tatsächlich musste sein interimistischer Nachfolger Alexander Schallenberg weniger Wochen später einen harten Lockdown und eine Impfpflicht verkünden, weil die Infektionszahlen explodierten und in den Spitälern die Intensivbetten knapp wurden.
"Kurz wurde als das entlarvt, was seine Gegnerinnen und Gegner schon immer in ihm sahen: ein Kommunikationsgenie ohne politisches Wollen", sagt Fußi.
Nicht nur die Umfragen waren ernüchternd. Auch in seiner eigenen Partei verlor er sichtbar an Rückhalt. Die Zentrifugalkräfte bei den österreichischen Konservativen sind noch stärker als bei der CDU in Deutschland. Neben den neun Machtzentren in den Bundesländern gibt es zahlreiche Bünde mit teils gegensätzlichen Interessen.
Die ÖVP-Granden haben noch jedem Parteichef das Leben schwer gemacht. Kurz war es eine Zeitlang gelungen, die einzelnen Kurfürsten seiner Partei auf Kurs zu bringen – auch durch ein neues Parteistatut, das ihm Vollmachten einräumte, von denen seine Vorgänger nicht zu träumen gewagt hatten.
Während seiner Kanzlerschaft muckte tatsächlich niemand in der ÖVP gegen den jungen Regierungschef auf.
Doch mit seinem Rücktritt als Kanzler im Oktober begann das große Murren darüber, ob der angeschlagene Parteichef noch der Richtige sei. Solange Kurz erfolgreich war, hatte man sich in Innsbruck, Linz und Graz mit Kritik zurückgehalten.
Doch mit dem Erfolg schwand die Loyalität: "Wenn man den Erfolg hat, braucht man die Statuten nicht. Wenn man keinen Erfolg hat, dann helfen die Statuten auch nichts", kommentierte Hermann Schützenhöfer, Landeshauptmann der Steiermark launisch.
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Kurz könnte einen lukrativen Job in der Privatwirtschaft ergattern
Als Kurz nach seinem letztlich erzwungenen Rücktritt als Kanzler durch die neun Bundesländer touren wollte, um die Chancen für ein Comeback zu sondieren, zeigte man ihm die kalte Schulter: Vier von neun ÖVP-Landesparteichefs ließen ihm ausrichten, dass sie keine Zeit für ein persönliches Treffen hätten.
Dass diese Blamage ihren Weg in die Medien fand, zeigt erst recht, dass der Altkanzler bei seiner Partei unten durch ist. "Die Marke Kurz ist zerstört. Er bietet den Menschen keine Projektionsfläche mehr", sagt Fußi.
Der Politikberater nennt noch einen weiteren möglichen Grund für den raschen Totalrückzug des Ex-Kanzlers. Noch habe er die Möglichkeit, einen Topjob in der Privatwirtschaft zu ergattern. Seine politische Karriere mag beendet sein, strafrechtlich hat er aber eine weiße Weste.
Denn was über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn bisher bekannt wurde, ist eher vage. In einem Jahr könnte das aber vielleicht schon ganz anders aussehen: "Als Angeklagter ist er für einen Topjob nicht mehr vermittelbar", sagt Fußi.
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview Rudi Fußi
- ORF-Interview Maria Rauch-Kallath
- Umfrage unique research
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