• Der Kriminologe Tobias Singelnstein spricht sich für eine Reform der Polizei aus.
  • Daneben sollten Investitionen in psychosoziale Angebote ausgebaut werden, um die Polizei zu entlasten.
Ein Interview

Herr Singelnstein, Sie schreiben in ihrem neuen Buch "Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt", die Polizei sei nicht für jede Aufgabe gut geeignet. Wie meinen Sie das?

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Tobias Singelnstein: Die Polizei ist eine Institution, die quasi rund um die Uhr überall zur Verfügung steht. Und deshalb tendieren wir als Gesellschaft dazu, sie immer zu rufen, wenn es Probleme gibt und wir nicht weiter wissen. Aber die Polizei betrachtet solche Situationen durch die Brille von Recht und Ordnung. Und im Zweifel klärt sie sie mit Gewalt. Soziale Probleme und grundlegende Konflikte, die häufig hinter solchen Situationen stecken, kann sie hingegen nicht lösen. Wenn es zum Beispiel zu einer Gefahrensituation mit einer psychisch kranken Person kommt, kann die Polizei in dem konkreten Moment vielleicht die Situation klären, aber nicht langfristig die Erkrankung begleiten. Ein ähnliches Thema ist Wohnungslosigkeit. Wenn wir uns als Gesellschaft dieser sozialen Probleme nicht früher annehmen, führt das dazu, dass sie früher oder später als akute Konflikte bei der Polizei landen - die sie aber nicht nachhaltig bearbeiten, sondern nur kurzfristig beruhigen kann. Deswegen müssen wir uns als Gesellschaft überlegen, ob wir all diese Dinge bei der Polizei abladen wollen oder stattdessen Institutionen schaffen oder stärken, die besser dafür ausgebildet sind und über die nötigen Ressourcen verfügen.

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Was stellen Sie sich da vor?

Die grundlegende Frage ist, ob wir nicht mehr Mittel bereitstellen sollten beispielsweise für sozialpsychiatrische Dienste beziehungsweise Sozialarbeiter, die sich mit Wohnungslosigkeit und anderen sozialen Problemen oder Konflikten beschäftigen. Die könnten dann schon da eingreifen, wo die Konflikte entstehen, sodass die Polizei gar nicht erst involviert wird.

Wie bewerten Sie die Mittel, die der Polizei zur Verfügung stehen? Es gibt immer wieder Kritik am Einsatz von Tasern, Überwachungssoftware oder Projekten zur Gesichtserkennung.

Die Polizei hat heute so viele Befugnisse und Möglichkeiten wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik und diese Befugnisse werden weiter ausgebaut. Da gibt es eigentlich nie einen Punkt, wo mal gefragt wird: Brauchen wir das noch oder kann man das abschaffen? Stattdessen ergeben sich in der öffentlichen Debatte immer wieder Situationen, in denen es der Politik aufgrund von besonderen Gefahrenlagen oder Forderungen aus der Polizei dringend notwendig scheint, dass bestimmte weitere Befugnisse eingeführt werden. Die öffentliche Debatte tendiert dazu, nur den möglichen Sicherheitsgewinn durch bessere Möglichkeiten für die Polizei zu sehen, aber nicht die damit verbundenen Grundrechtseingriffe oder Gefahren. Der Taser ist ein gutes Beispiel.

Inwiefern?

Auf der einen Seite sagt die Polizei: Wir können Taser statt der Schusswaffe einsetzen, sodass Leute nur kurz außer Gefecht gesetzt werden. Auf der anderen Seite sehen wir in der Praxis, dass das Gerät sehr viel niedrigschwelliger eingesetzt wird. Das heißt, auch in Situationen, in denen sonst vielleicht ein Pfefferspray oder unter Umständen einfach Kommunikation weitergeholfen hätte. Und gleichzeitig wissen wir, dass der Taser nicht so ungefährlich ist, wie er häufig dargestellt wird. Studien aus den USA zeigen, dass es bei Einsätzen immer wieder zu Todesfällen kommt.

"Da gibt es eigentlich nie einen Punkt, wo mal gefragt wird: Brauchen wir das noch oder kann man das abschaffen? "

Immer wieder in der Kritik stehen auch die Polizeigesetze der Bundesländer. Eine neue Recherche legt laut dem Onlinemagazin Krautreporter (Bezahlinhalt) zum Beispiel nahe, dass die Polizei in NRW Gesetze zur Terrorbekämpfung nutzt, um Klimaaktivisten am Demonstrieren zu hindern. Wie sehen Sie das?

Es hat seit Anfang der 1990er Jahre eine kontinuierliche Ausweitung der polizeilichen Befugnisse gegeben. Zum Beispiel wurden Überwachungsbefugnisse, die früher nur in der Strafprozessordnung standen, in die Polizeigesetze übernommen. Die Möglichkeiten des Gewahrsams wurden in allen Bundesländern stark ausgeweitet und die neue Kategorie der "drohenden Gefahr" ermöglicht ein deutlich früheres Eingreifen in bestimmten Situationen. Diese Entwicklung schlägt sich in allen Bereichen nieder, in denen die Polizei tätig ist, also auch im Umgang mit Protest und Versammlungen.

Bei vielen aktuellen Themen liest man immer wieder etwas von den Polizeigewerkschaften. Welche Rolle spielen sie?

Sie äußern sich nicht nur zu Beschäftigtenrechten, sondern zu allen möglichen Themen rund um innere Sicherheit und polizeiliche Aufgaben. Die Polizei selbst äußert sich ja häufig nicht oder nur in einer bestimmten Form und dadurch entsteht ein gewisses Vakuum, in das die Gewerkschaften mit markigen Worten hineinstoßen. Dabei werden sie von den Medien häufig wenig differenziert als Expertinnen und Experten wahrgenommen, obwohl sie letztendlich nur als Interessenvertreter ihrer Mitglieder agieren. Und man kann sich auch fragen, inwieweit die Gewerkschaften in ihrer Öffentlichkeitsarbeit überhaupt das tatsächliche Stimmungsbild in der Polizei widerspiegeln.

Viel Unmut bei der Polizei gab es 2020 laut des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer bei dem Vorhaben einer Rassismus-Studie. Was wurde daraus?

An der Deutschen Hochschule der Polizei läuft eine bundesweite Studie über die Polizei, die aber allgemeiner angelegt ist, wo Rassismus also ein Thema neben vielen anderen ist. Daneben gibt es auf Länderebene eine Reihe von kleineren Studien zum Thema. Ich glaube, in der Forschung und auch in der Polizei intern ist durch die Diskussion in den vergangenen beiden Jahren klar geworden, dass Rassismus und Diskriminierung durch die Polizei in einer diversen Gesellschaft wie der unseren ein grundlegendes Problem sind und dass sich damit bislang zu wenig auseinandergesetzt wurde.

"Journalistinnen und Journalisten sollten polizeiliche Darstellungen stets kritisch hinterfragen"

Vorwürfe gibt es häufig auch beim Thema Polizeigewalt, etwa mit Blick auf den G20-Gipfel in Hamburg 2017 und verschiedene Vorfälle seitdem. Gefordert wird in dem Zusammenhang meist eine unabhängige Beschwerdestelle, wie sieht es diesbezüglich aus?

Es gibt mehrere Bundesländer, die solche Stellen oder Polizeibeauftragte eingeführt haben. Ich glaube, diese Entwicklung wird weitergehen. Die Diskussion um rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübung haben wir in Deutschland im Prinzip schon seit 20 bis 30 Jahren. Sie ist in den vergangenen Jahren noch mal stärker geworden und ich denke, dass auch diese Diskussion nicht spurlos an der Polizei vorübergeht. Denn sie ist ja darauf angewiesen, dass die Gesellschaft ihre Legitimität anerkennt. Und rechtswidrige Gewaltausübung untergräbt diese Legitimität.

Wie beurteilen Sie die mediale Berichterstattung über die Polizei allgemein? Es gab schon mehrfach Fälle, in denen sich Behauptungen der Polizei als falsch oder irreführend herausstellten.

Das ist in der Tat ein Problem. Die Polizei ist in ihrer Öffentlichkeitsarbeit zwar dem Gebot der Sachlichkeit und Neutralität verpflichtet und wird von vielen Medien immer noch als eine objektive Instanz wahrgenommen. Aber die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit zeichnet mitunter auch ein einseitiges und sogar ein falsches Bild. Zum einen passieren natürlich auch hier Fehler. Und zum anderen ist die Polizei mitunter selbst als Akteurin in die jeweiligen Situationen involviert. Sie hat also eine spezifische Perspektive auf das Geschehen und unter Umständen sogar eigene Interessen. Deshalb sollten Journalistinnen und Journalisten polizeiliche Darstellungen stets kritisch hinterfragen: Kann man das auch anders sehen? Was sagen andere Beteiligte?

Zur Person: Tobias Singelnstein hat den Lehrstuhl für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum inne. Dort leitet er den weiterbildenden Masterstudiengang "Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft". Im März ist das Buch "Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt" von ihm und Benjamin Derin bei Econ erschienen.
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