- In ganz Deutschland gehen Demonstranten auf die Straße und protestieren gegen die aktuelle Corona-Politik – massive Ausschreitungen gab es zuletzt in München.
- Dabei missachten die Demonstranten flächendeckend die Schutzauflagen, die Stimmung heizt sich zunehmend auf.
- Die Polizei wirkt hilflos. Woher der Eindruck kommt, erklärt Polizeiwissenschaftler Rafael Behr.
Chaotische Szenen aus der gesamten Bundesrepublik: Bei einer nicht genehmigten Demonstration haben am Mittwochabend (22.) etwa 5000 Menschen in München gegen eine Impfpflicht und die Corona-Maßnahmen protestiert. Dabei wurden Polizeiketten überrannt, lange Zeit ließ die Polizei die Demonstranten gewähren, obwohl sie die Auflagen missachteten.
Maskenpflicht und Abstand wurden kaum eingehalten, an Absperrungen kam es zu Rangeleien. Ein Polizeisprecher sprach von aufgeheizter Stimmung, man habe keine Auflagen erteilen können, da es sich um eine "nicht zugängliche Menschenmasse" handelte. Stellenweise ging die Polizei auch mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Demonstranten vor.
Polizei-Durchsagen ignoriert
Es ist nicht das erste Mal, dass die Polizei bei Corona-Demonstrationen unterbesetzt, hilflos und überfordert wirkt: Auch Szenen, die sich von einer Demonstration aus Magdeburg am 20. Dezember in sozialen Netzwerken verbreiten, zeigen, wie Demonstranten ungehindert und ungestraft Absperrungen durchbrechen, sogar Gewalt gegenüber Polizisten anwenden. "Wir sind das Volk" skandieren die Demonstranten dabei immer wieder.
Ähnliches Bild in Mannheim: Die Durchsagen der Polizei bei einer Corona-Demonstration werden ignoriert, die Szenen auf der Straße wirken wie ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Demonstranten und Einsatzkräften. Ein User kommentiert dazu bei Twitter: "Mein Eindruck: Wenn es gegen linke Jugendliche geht, [...] sieht man andere Bilder. Aber von asozialen Schwurblern, die von "Diktatur" faseln, da lässt man sich vorführen."
Misst die Polizei mit zweierlei Maß?
Stimmt der Eindruck? Immer wieder schreiben User in den sozialen Netzwerken: Während gegen Linke und Linksextreme hart durchgegriffen werde, schienen die von Rechtsextremen unterwanderten Corona-Demonstrationen von der Polizei eher nur "begleitet" zu werden.
"Der Eindruck, dass es im polizeilichen Handeln hier einen Unterschied gibt, stimmt", sagt Polizeiwissenschaftler Rafael Behr. Die Begründung sei aber nicht, dass die Polizei mit den Demonstranten sympathisiere. Stattdessen: "Die Demonstrationsklientel bei Corona-Demos ist äußerst heterogen. Am Anfang war das für die Polizei eine völlig neue Demonstrationserfahrung und ein neuer Typus", erinnert der Experte.
Herausforderungen für Einsatzkräfte
Die Polizei habe deshalb Lernprozesse durchmachen müssen. "Am Anfang war die Masse der Demonstranten sehr bunt, sie war zwar zornig und laut aber nicht gewalttätig. Die Polizei war zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorgehensweise gehemmt, weil sie nicht wusste, wie sie damit umgehen soll", analysiert Behr.
Die Polizei habe nur schlechte Bilder produzieren können: "Wenn sie nichts macht, wird sie kritisiert, zu lasch zu sein oder mit dem Demonstranten zu sympathisieren. Wenn sie Schlagstöcke und Wasserwerfer einsetzt, wird sie ebenfalls dafür angegriffen", sagt der Experte.
Mehr Erfahrung mit Linken
Mit linken Demonstranten hätten die Einsatzkräfte hingegen viel mehr Erfahrung, Konfliktrituale seien eingespielt, Erkennungszeichen bekannt. "Sie erscheinen den Einsatzkräften viel homogener", sagt Behr.
Mittlerweile habe sich aber auch das Bild bei den Corona-Demonstrationen gewandelt. "Die Szene homogenisiert sich. Diejenigen, die immer noch auf die Straße gehen, entfernen sich so weit von Vernunft und wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass der Kreis enger wird", analysiert der Experte. Das gemeinsame Ziel sei aktiver Widerstand gegen den Staat. "Es geht nicht mehr nur darum, Angst zu äußern. Jetzt werden Flaschen geworfen und Polizisten angegriffen", betont er.
Demonstranten als Gesundheitsgefahr
Die hohe Eingriffsschwelle der Polizei in der Vergangenheit sei möglicherweise ein Fehler gewesen, habe aber noch weitere Gründe: "Die Demonstranten stellen durch ihr Dasein eine Gesundheitsgefahr dar, auch für die Einsatzkräfte", erinnert Behr. Als die meisten Polizeikräfte noch nicht geimpft gewesen seien, habe man riskiert, sich selbst zu infizieren.
"Der klassische Auslöser für polizeiliche Eingriffe ist, wenn Demonstranten durch ihr Handeln eine Gefahr darstellen – Steine und Flaschen werfen, Gegenstände anzünden. Das kennen wir zum Beispiel von Linksextremen", sagt Behr. Nun stellten zwar auch die Corona-Demonstranten eine Gefahr dar, sie sei aber im Straftatenkatalog nicht eindeutig definiert.
"Wer gegen die Corona-Schutzverordnung verstößt, begeht juristisch gesehen nur eine Ordnungswidrigkeit", sagt Behr. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgend gehe die Polizei da weniger robust vor.
Strategische Herausforderung
Weil nun auch auf Corona-Demonstrationen vermehrt Gewalt zu sehen sei, erwartet Behr, dass sich auch das polizeiliche Handeln ändern wird. "Ich hätte dennoch einen schnelleren Lernerfolg auf der strategisch-taktischen Führungsebene erwartet", gibt der Polizei-Experte zu.
Eine Herausforderung bleiben die Corona-Demonstrationen für die Polizei dennoch: "Die Demonstranten agieren nicht als geschlossener Zug, der sich an die Regeln des Versammlungsrechts hält", sagt Behr. Es heiße immer wieder, man demonstriere nicht, man gehe nur spazieren. "Die Polizei kann kräftemäßig schlecht damit umgehen, wenn Kleingruppen immer wieder in andere Richtungen ausschwärmen", erklärt Behr.
Stellungnahme des Innenministeriums
In Sachsen, wo die Gegnerschaft der Corona-Maßnahmen besonders laut und stark ist, teilt das Innenministerium mit: "Das Handeln der Polizei bei der Absicherung von Versammlungen erfolgt, unabhängig von der Thematik, im Rahmen des gesetzlichen Auftrages".
Dabei bildeten die aktuellen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen keine Ausnahme. "Versammlungen werden im Rahmen polizeilicher Einsätze abgesichert, wenn dies erforderlich ist, Straftaten werden verfolgt sowie Ordnungswidrigkeiten geahndet", so das Innenministerium.
Personelle Probleme
Die Sprecherin gibt aber zu: "Die Polizei steht vor gleich mehreren schwierigen Aufgaben. Sie muss erstens dafür sorgen, dass Bürger ihre Versammlungsfreiheit wahrnehmen können. Sie muss zweitens Sicherheit und Ordnung gewährleisten. Drittens muss die Polizei Verstöße gegen die geltende Corona-Verordnung ahnden".
In den letzten Wochen habe die Polizei landesweit gleichzeitig über 100 Versammlungen zu verzeichnen gehabt. "Da ist es klar, dass sie alle drei Ziele nicht immer und überall gleichermaßen gewährleisten kann", heißt es aus dem Innenministerium.
Kinder auf Demonstrationen
Patrick Martin, Sprecher der Thüringer Landespolizei, erinnert: Eine genaue Prognose der zu erwartenden Teilnehmerzahlen ist aufgrund der Tatsache, dass die allerwenigsten solcher Demonstrationen ordnungsgemäß angemeldet werden, kaum möglich."
Auch die Thüringer Polizei könne "aufgrund der Kräftelage vor Ort und der fehlenden Akzeptanz auf der Seite der Versammlungsteilnehmer" die Corona-Schutzverordnung nicht immer umsetzen. Die Einsatzkräfte orientierten sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. "Wenn, wie bei solchen Versammlungen häufig der Fall, Kinder mitgeführt werden, scheiden massive Eingriffsmaßnahmen regelmäßig aus", erklärt Martin. Dies sei aber keiner schlechten Vorbereitung geschuldet.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Prof. Dr. Rafael Behr
- Anfrage beim sächsischen Innenministerium
- Anfrage bei der Thüringer Landespolizei
- Twitter: "Recherchemd": Demonstrationsszenen aus Magdeburg. 20.12.2021:
- Twitter: "DanniPilger": Demonstrationsszenen aus Mannheim. 20.12.2021:
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