Nach Dunkelflauten und hohen Strompreisen im Dezember: Ist der Energiewende-Traum ausgeträumt? Ein Experte widerspricht und erklärt, warum der deutsche Strommarkt auch in windstillen Nächten funktioniert.
Die hohen Stromkosten, die im Dezember zeitweise abgerufen wurden, und sogenannte Dunkelflauten haben die Debatte um die Zuverlässigkeit der erneuerbaren Energien erneut entfacht. Deutschland könnten Stromausfälle drohen, so die Sorge. Und viele stellen sich die Frage: Hat sich die deutsche Politik verzockt, wenn hierzulande Atomkraftwerke vom Netz genommen werden, dafür aber Strom aus Atom-Frankreich importiert werden muss?
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte zuletzt dafür geworben, den Rückbau des Atomkraftwerks Isar II zu stoppen – und den Meiler womöglich wieder ans Netz zu nehmen. Aus Sicht des Energieökonomen Lion Hirth kommt das zu spät. Die Energiewende, ist er überzeugt, lässt sich nicht aufhalten.
Herr Hirth, im Dezember sind die Strompreise in die Höhe geschossen, es gab Dunkelflauten. Ist der Energiewende-Traum ausgeträumt?
Lion Hirth: Absolut nicht. Es ist normal, dass es immer mal wieder Momente im Jahr gibt, in denen es dunkel und windstill ist. Unser Stromsystem ist darauf vorbereitet und es ist völlig normal, dass Strompreise in einzelnen Stunden sehr hoch werden. Das ist nichts Besorgniserregendes.
Ach ja?
Genauso normal ist es, dass die Preise an der Strombörse manchmal niedrig werden und nicht selten gegen Null gehen. Am 1. Januar lagen sie beispielsweise fast den ganzen Tag bei Null. Für die meisten Betriebe und Menschen in diesem Land ist wichtig, was sie am Ende des Jahres für Strom zahlen – da ist es völlig egal, wenn wenige Stunden enorm hochpreisig sind.
Die Hysterie, die mit den Preisen im Dezember einhergegangen ist, war also übertrieben?
Da müssen wir genau hinschauen: Der Traum der Energiewende ist sicherlich nicht ausgeträumt. Aber man kann sich schon fragen, ob in diesen Stunden, in denen die Energie so teuer war, richtig gehandelt wurde.
Wie meinen Sie das?
Viele Gas- und Kohlekraftwerke haben Strompreise aufgerufen, die weit über ihren eigenen Erzeugungskosten gelegen haben. Als Ökonom verfolge ich das mit Sorge: Diese Unternehmen nutzen ihre Marktmacht aus und treiben den Preis nach oben. Darüber, ob und in welchem Maße das sinnvoll und gewollt ist, kann diskutiert werden. Das hat aber nichts mit einer gescheiterten Energiewende zu tun, sondern ist eine Frage von Marktmacht und deren Kontrolle.
Das heißt, prinzipiell sind wir dafür gewappnet, dass der Wind mal nicht weht und die Sonne nicht scheint?
Natürlich ist es so, dass wir neben dem Ausbau von Wind- und Solarenergie regelbare Kraftwerksleistung brauchen, um diese Engpässe auszugleichen. Langfristig besteht die Hoffnung, dass ein Großteil einmal durch grünen Wasserstoff gedeckt werden kann, der in den Kraftwerken verfeuert wird. Aktuell ist das noch nicht möglich, stattdessen nutzen wir Kraftwerke, die vor 10, 20, 30 und 40 Jahren gebaut wurden und zum Teil in den kommenden Jahren abgeschaltet werden. Wir müssen also diese dreckigen Kohlekraftwerke nach und nach durch Gaskraftwerke ersetzen. Das reicht aber nicht aus.
Was braucht es noch?
Wir müssen dringend am intelligenten Stromverbrauch arbeiten. Intelligente Wärmepumpen, intelligent geladene Elektroautos, aber auch Heimspeicher und die Schwerindustrie müssten ihren Verbrauch während solcher Dunkelflauten-Engpässe flexibel verschieben oder einsenken können. Das funktioniert heute noch gar nicht.
Das Elektroauto soll also eigenständig mitteilen, dass gerade der Strom besonders teuer ist und es deshalb erst später vollladen wird?
Ganz genau. Konkret braucht es dafür einen Stromtarif, der den aktuellen Börsenpreis widerspiegelt und auf den der Algorithmus des Autos zugreifen kann. Das Auto weiß, wann Sie morgens losfahren und wie Ihre Pendelstrecke aussieht – es kann also feststellen, ob die Ladung womöglich auch noch einen Tag ausreicht und es deshalb warten kann mit dem Aufladen. Statt zu einem hochpreisigen Zeitpunkt zu laden, könnte es warten, bis der Strompreis wieder gefallen ist.
Das klingt nach Science-Fiction.
Solche Tarife gibt es seit Jahren und in vielen Ländern sind sie sehr verbreitet, aber leider nicht in Deutschland. Die Voraussetzung dafür ist ein Smart Meter. Der liest alle 15 Minuten den Stromverbrauch ab und übermittelt ihn – an der Strombörse geht der Preis ebenfalls alle 15 Minuten hoch und runter. Entsprechend wird der genaue Verbrauch abgerechnet. Wir gehen aber einen deutschen Sonderweg und wollen die perfekte Lösung bauen, statt die Geräte zu nutzen, die in anderen Ländern seit Jahren funktionieren.
Wie sieht diese Extra-Lösung aus?
Das Gerät soll nicht nur messen, wie viel Strom verbraucht wird, sondern auch die Haushaltsgeräte steuern. Es soll also eine Art Schaltzentrale im Keller geben, die der Netzbetreiber steuern kann. Meine Vision ist eine andere: Menschen sollten selbst die Schaltzentrale nutzen.
Die Verbraucherstrompreise sind im vergangenen Jahr gesunken. Trotzdem wird immer wieder ein sogenannter Industriestrompreis diskutiert, um die Wirtschaft zu entlasten. Sind Stromkosten schuld an der Wirtschaftsflaute?
Der Kundenstrompreis ist mittlerweile wieder auf dem Niveau von vor dem Ukraine-Krieg, ungefähr 30 Cent pro Kilowattstunde. Das liegt allerdings auch daran, dass die Förderung der erneuerbaren Energien jetzt über die Steuern finanziert wird und nicht mehr über die EEG-Umlage, die Stromkunden gezahlt haben. Der Börsenstrompreis ist zwar insgesamt gestiegen, durch den Wegfall der EEG-Umlage ist es für den Endverbraucher jetzt trotzdem günstiger. Bei der Industrie sieht die Sache anders aus: Die EEG-Umlage mussten diese Kunden ohnehin nicht zahlen, der Entlastungseffekt für den höheren Börsenstrompreis bleibt aus. Dadurch ist der großindustrielle Strompreis ein wenig höher als noch vor fünf Jahren.
Die EEG-Umlage
- Mit der Förderung des Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) soll der Ausbau der erneuerbaren Energien finanziert werden.
- Bis Juli 2022 mussten alle Stromkunden eine sogenannte EEG-Umlage entrichten – also die Differenz zwischen den Kosten für erneuerbaren Strom und den Erlösen, die damit erzielt werden können.
Wäre ein Industriestrompreis also sinnvoll, um die Wirtschaft zu entlasten?
Die wirklich energieintensive Wirtschaft, in der der Strompreis mehr als zwei oder drei Prozent der Gesamtkosten ausmacht, umfasst nur ganz wenige, spezielle Sektoren. Zum Beispiel die Herstellung von Zellstoff und Papier, Aluminium und Kupfer oder die Elektrolyse von Chlor. Also einzelne Segmente der Grundstoffindustrie. Das hat absolut gar nichts mit der Krise bei der deutschen Kernwirtschaft zu tun, der Automobilindustrie und dem Maschinenbau.
Deutschland ist allerdings ein Netto-Stromimporteur geworden. Haben wir uns doch verzockt?
Bei dieser Debatte scheinen mir einige einen gewissen Fetisch entwickelt zu haben. Wir importieren ja ganz viele essentielle Güter: Lebensmittel, Kleidung, Medikamente. Der Strommarkt in Europa funktioniert so, dass wir in jeder Viertelstunde des Tages über alle Ländergrenzen hinweg Strom exportieren und importieren. Alle Länder machen das, völlig automatisiert. Und es ändert sich die ganze Zeit in alle Richtungen. Wir importieren oft, wir exportieren oft. Es gibt kaum ein Land in Europa, das nicht irgendwann mal auf Importe angewiesen wäre. Es ist gut, dass unser europäischer Strommarkt so gut funktioniert – das macht es für alle günstiger und sicherer.
Immer wieder kommt auch die Idee auf, Atomkraftwerke zu reaktivieren. Bayerns Ministerpräsident
Die deutsche Diskussion um Atomkraft hat wenig mit energiepolitischer Realität und viel mit politischer Folklore zu tun. Das gilt übrigens für alle Seiten. Es ist sehr unrealistisch, dass diese alten Anlagen noch einmal ans Netz gehen. Und was den Neubau von Atomkraftwerken angeht: Würden wir jetzt in die Planung einsteigen, wären die Anlagen im besten Fall zur Mitte des Jahrhunderts fertig. Wir müssen also ehrlicherweise sagen, dass das keine schnelle Lösung darstellt. Und vor allem keine Alternative zum Ausbau von Wind- und Solarenergie, von Batterien und Stromnetzen.
Kann die Energiewende überhaupt noch rückgängig gemacht werden?
Warum sollte man das wollen? In Wirklichkeit ist es doch gar nicht so kontrovers: Wind- und Solarenergie sind einfach verfügbar und wahnsinnig günstig. Deutschland geht hier keinen Sonderweg, auch in China, Pakistan, Indien, Chile, Vietnam oder Texas werden Wind- und Solarkraftwerke in riesigem Stile gebaut – und die stehen nicht gerade im Verdacht, energieideologisch unterwegs zu sein. Den globalen Boom bei Wind- und Solarenergie wird garantiert niemand rückgängig machen.
Über den Gesprächspartner
- Lion Hirth ist Professor für Energiepolitik an der Herthie School of Governance in Berlin. Der 40-jährige Energieökonom ist zudem Geschäftsführer des energiewirtschaftlichen Beratungsunternehmens Neon.
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