Eine große Gesundheitsreform ist von einer möglichen neuen großen Koalition nicht zu erwarten. Dabei gilt das deutsche System als nicht mehr zukunftsfähig. Ein Blick auf andere Länder und Reformmodelle.

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Seit Jahren wiederholt sich vor Bundestagswahlen ein ähnliches Muster. Parteien setzen auf das Thema Gesundheit, fordern eine grundlegende Reform der Krankenversicherung – doch am Ende kommt es nur zu kleinen Korrekturen am bestehenden System.

Die von linken Parteien gewünschte Bürgerversicherung hat derzeit keine politische Mehrheit, die von Union und FDP geforderte "Kopfpauschale" spielt keine große Rolle mehr. Dabei ist das deutsche System der Krankenversicherung dringend reformbedürftig.

Woran das Versicherungssystem krankt

Der technische Fortschritt macht medizinische Behandlungen teurer. Der demografische Wandel wird zudem dafür sorgen, dass der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung sinkt.

Da die gesetzliche Krankenversicherung sich vor allem aus Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, wird sie diese Entwicklung vor Probleme stellen.

"Das jetzige System wird in 20 Jahren nicht mehr funktionsfähig sein", sagt Wolfram Burkhardt, Professor für Management im Gesundheitswesen an der "Frankfurt University of Applied Sciences".

Denn höhere Beiträge würden die Löhne belasten, sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften würden sie wohl nur schwerlich mittragen.

Nicht viel besser sieht es für private Krankenversicherer aus. Sie können zwar damit werben, dass ihre Kunden Privilegien gegenüber Kassenpatienten haben.

Doch das zahlen die Versicherten mit steigenden Prämien, auch weil die Versicherer für das Alter ihrer Kunden Rücklagen bilden müssen.

Das Geschäft mit privaten Krankenversicherungen gelte als nicht besonders lohnend, sagt Wolfram Burkhardt – auch wenn die betroffenen Unternehmen das nicht so gerne zugeben.

Andere Länder, andere Systeme

Das deutsche System der gesetzlichen Krankenversicherung geht auf den früheren Reichskanzler Otto von Bismarck zurück und basiert auf folgendem Versicherungsprinzip: Behandlungen werden aus den Beiträgen der Versicherten finanziert – mit Unterstützung von deren Arbeitgebern. Im Ausland gibt es dagegen andere Systeme.

Skandinavische Länder:

In den sozialdemokratisch geprägten nordischen Ländern finanzieren sich die Gesundheitssysteme zum größten Teil aus Steuern.

Der Vorteil: Die Lasten werden damit auf die Schultern aller Erwerbstätigen verteilt. Allerdings hängt dieses solidarische System von der Bereitschaft der Besserverdiener ab, dafür zu zahlen: "Norwegen und Dänemark zum Beispiel haben überdurchschnittlich gute Versorgungssysteme", erklärt Wolfram Burkhardt, "der Preis ist aber ein hohes Ausmaß an Steuertransfers."

USA:

Ein ganz anderes System haben die USA. Gesundheitsvorsorge wird von vielen Amerikanern als Privatsache angesehen. Die meisten von ihnen haben eine private Krankenversicherung – häufig über den Arbeitgeber. Trotz der großen Obamacare-Reform haben noch immer rund 20 Millionen Bürger gar keine Krankenversicherung – oder nur eine lückenhafte.

"Diejenigen, die es sich leisten können, bekommen in der Regel eine gute Versorgung", sagt Stefan Greß, Professor für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fulda. Bei sozial Schwachen ist das weniger der Fall. "Wer chronisch krank ist, kann dadurch durchaus in die Insolvenz geraten", sagt Greß.

Schweiz:

Das System der Eidgenossen beruht auf der Kopfpauschale. Jeder Bürger kann eine Krankenkasse frei wählen, die Beiträge einer Kasse sind für alle Versicherten gleich hoch – wie hoch genau, entscheidet die Kasse selbst. In Deutschland haben auch die CDU und vor allem die FDP mit diesem Konzept geliebäugelt.

Die Vorteile: Dass die Kassen ihre Beiträge selbst festlegen, erhöht den Wettbewerb. Außerdem werden die Lohnkosten weniger belastet.

Doch als Vorbild taugt die Schweiz nach Ansicht von Wolfram Burkhardt nur noch bedingt. "Die Finanzierung ist der deutschen Krankenversicherung nicht überlegen. Das schweizerische System krankt an sehr hohen Ausgaben." In Deutschland hat es sich zudem als politisch nicht durchsetzbar erwiesen, dass ein Chef und seine Sekretärin die gleichen Beiträge zahlen sollen.

Drei Szenarien für die Zukunft

Bürgerversicherung:

Das von SPD, Grünen und Linken vorgeschlagene Modell sieht vor, dass das Versicherungssystem alle Bürger – also auch die bisher meist privatversicherten Beamten und Selbstständigen – einbezieht. Das soll die Solidarität erhöhen, mit den Privatversicherten kämen viele Besserverdiener in das gemeinsame System.

Ein solches Modell gibt es zum Beispiel in Österreich. Seit 2006 haben auch die Niederlande das Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Vollversicherungen abgeschafft – mit durchaus "vorbildhaften Elementen", wie Experte Stefan Greß findet. Es sei ein einheitliches System mit fairem Wettbewerb. In Deutschland hat die Abschaffung der Privatversicherung derzeit trotzdem keine politische Mehrheit.

Union, FDP und Ärzteverbände lehnen eine Bürgerversicherung ab. Sie sehen darin einen Zwang zur Einheitsmedizin.

Steuerfinanzierung:

Wie beschrieben würde eine Steuerfinanzierung der Krankenversicherung die Löhne entlasten und alle Erwerbstätigen einbeziehen. Wolfram Burkhardt sieht darin einen möglichen Weg in die Zukunft.

"Das wäre allerdings ungewöhnlich, weil das Gesundheitssystem damit seinen eingeschlagenen Pfad wechseln würde." Historisch gewachsene Systeme lassen sich nicht so einfach abschaffen und ersetzen.

Trotzdem könnte eine stärkere Steuerfinanzierung helfen, Finanzlücken zu schließen. Allerdings müssten dafür der Finanzminister und letztlich auch die Steuerzahler mitspielen.

Selbstbeteiligung:

Ein recht radikales Reformmodell hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vorgeschlagen. Neben der Kopfpauschale sieht es einen Selbstbehalt der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Das bedeutet: Sie müssten einen Teil der Arztkosten selbst bezahlen.

Das soll dazu beitragen, dass Patienten sich sehr genau überlegen, welche Behandlung sie wirklich brauchen – und es würde die Beiträge senken. Gesundheitsökonom Stefan Greß sieht das Konzept allerdings kritisch – "weil das die Idee eine Versicherung eigentlich aushöhlen würde".

Greß glaubt ohnehin nicht, dass die Krankenversicherung in Deutschland mit einer großen Reform komplett umgekrempelt werden kann. "Es gab bei dem Thema immer nur eine evolutionäre Entwicklung, nie revolutionäre Umstürze."

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