Millionen Menschen auf der Straße, Streiks, Ausschreitungen, und Festnahmen – in Frankreich spitzen sich die Proteste gegen die Rentenreform zu. Seit Januar kommt das deutsche Nachbarland nicht mehr zur Ruhe. Die Regierung sieht die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre als zwingend notwendig an – und boxt das Vorhaben weiter durch.
Nachdem der Senat für die Rentenreform stimmte, hätte eigentlich am Donnerstagabend (16.3.) die Nationalversammlung darüber abstimmen müssen. Doch die Regierung von Emmanuel Macron umging das Verfahren, indem es einen Zusatzartikel der Verfassung nutzte. Die Sorge war, dass doch nicht genügend Abgeordnete der Reform zustimmen. Daraufhin kam es wieder zu Ausschreitungen. Warum trotz aktuell guter Wirtschaftslage die Reform Frankreich fit für die Zukunft machen könnte und ob er das Vorgehen für gerecht hält, erklärte unserer Redaktion der Politologe und Frankreich-Experte Dominik Grillmayer.
Herr Grillmayer, die französische Regierung will das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre anheben und die Beitragszahlung um ein Jahr verlängern. Glauben Sie, dass kein Weg mehr daran vorbeiführt?
Dominik Grillmayer: Angesichts der Alterung der Bevölkerung, die auch Frankreich trifft, ist früher oder später Handlungsbedarf. Der Präsident und die Regierung begründen die Notwendigkeit der Reform mit Defiziten, die bereits bis 2030 die Rentenkassen belasten. Daher ist sie entschlossen, die Reform auch gegen massive Widerstände durchzusetzen.
Wie steht es um das französische Rentensystem – droht dort ein Loch in der Rentenkasse?
Das ist in der öffentlichen Debatte in Frankreich umstritten. Die Regierung argumentiert, dass in den kommenden Jahren mehrere Milliarden Euro fehlen, wenn nichts unternommen wird, Gegner der Reform bestreiten dies und verweisen darauf, dass der Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit längst begonnen hat, ohne dass das System in finanzielle Schieflage geraten sei. Aus ihrer Sicht bleibt die Regierung eindeutige Zahlen als Belege für die Unterfinanzierung des Systems schuldig.
Richtig ist, dass die Alterung der Bevölkerung mit Blick auf die höhere Geburtenrate in Frankreich nicht so schnell voranschreitet wie in Deutschland. Letztlich ist diese Frage auch unter Experten umstritten. Daher fehlt ein allgemeiner Konsens, dass der Status quo nicht hinnehmbar ist und dringender Handlungsbedarf besteht. Viel hängt natürlich vom zukünftigen Wirtschaftswachstum und den Entwicklungen am Arbeitsmarkt ab, und je nach Prognose laufen bis 2030 Defizite auf oder nicht.
Wie viel kostet die Rente Frankreich im Moment?
Die Renten sind mit Abstand der größte Posten in der französischen Sozialversicherung, gefolgt vom Gesundheitswesen. Zusammen entfallen rund 80 Prozent der Ausgaben der Sozialversicherung auf diese beiden Zweige - wie in Deutschland. 2019 lagen die Ausgaben bei 340 Milliarden, bis 2040 könnten sie auf über 420 Milliarden steigen.
Wie ist das französische Rentensystem im europäischen Vergleich einzuordnen?
Das Rentensystem ist im Vergleich insgesamt recht großzügig, die Durchschnittsrente ist höher als in Deutschland. Der Wohlstand konzentriert sich momentan verstärkt bei der aktuellen Rentnergeneration - Immobilienbesitz sowie Spareinlagen - und nicht bei der aktiven Bevölkerung.
Allerdings bestehen bei Renteneintritt und Rentenberechnung teils große Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Sektor, und Altersarmut ist auch in Frankreich ein Thema bei Geringverdienern sowie Menschen, die über gebrochene Erwerbsbiographien verfügen. Auch mit Blick auf die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Berufen und damit zusammenhängende Unterschiede bei der Lebenserwartung wird viel darüber diskutiert, inwieweit körperlich anstrengende Tätigkeiten beim Renteneintritt stärker berücksichtigt werden sollten.
Inwiefern könnte das Reformprojekt die Rentenkassen bis 2030 finanziell ausgleichen?
Die Regierung argumentiert, mit dem aktuellen Reformvorhaben würden drohende Defizite von mehreren Milliarden jährlich ausgeglichen. Zugeständnisse im Gesetzgebungsprozess würden das Einsparpotenzial schmälern, daher wehrt sie sich auch trotz aller Kritik so vehement dagegen, von der geplanten Verschiebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Abstand zu nehmen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Wirtschaftslage in Frankreich? Wie würde sich die Rentenreform darauf auswirken?
Die Wirtschaftslage in Frankreich ist momentan vergleichsweise gut, auch der Arbeitsmarkt hat sich positiv entwickelt. Die Arbeitslosigkeit liegt so niedrig wie vor 15 Jahren. Die Rentenreform könnte aus Sicht der Exekutive dazu beitragen, dringend benötigte Investitionen in die Zukunftsfähigkeit des Landes, vor allem den grünen Umbau der Wirtschaft, zu tätigen und damit langfristig den Wohlstand zu sichern, anstatt das Rentensystem zu finanzieren. Kritiker halten allerdings dagegen, dass gemessen an diesem Investitionsbedarf die durch die Reform möglicherweise freigesetzten finanziellen Mittel gar nicht ins Gewicht fallen.
Eine Auswirkung der Reform wäre, dass Menschen länger arbeiten müssten.
Genau, Menschen könnten länger im Arbeitsmarkt gehalten werden, denn auch in Frankreich wird die aktive Bevölkerung aufgrund der Alterung der Gesellschaft zurückgehen, was sich negativ auf die Wachstumserwartungen auswirken dürfte. Das setzt allerdings voraus, dass die Unternehmen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch tatsächlich weiterbeschäftigen. Die Erwerbsquote von Menschen über 60 ist im europäischen Vergleich derzeit eher niedrig, und das liegt nicht nur daran, dass der Renteneintritt früher erfolgt.
Wenn sich Arbeitgeber vorzeitig von älteren Mitarbeitern trennen, müssen diese eine Phase der Arbeitslosigkeit bis zur Rente überbrücken, die dann auch noch geschmälert wird. Auch deshalb wird die geplante Verschiebung des Renteneintrittsalters so stark kritisiert und im Parlament gab es Initiativen, den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen.
Ist die Rentenreform gerecht?
Darüber wird in Frankreich heftig gestritten. Die Regierung hat versucht, die Reform als gerecht und sozial ausgewogen zu verkaufen und hat insbesondere damit argumentiert, dass die Renten vieler Geringverdiener angehoben würden, was besonders auch Frauen zugutekomme. In diesem Punkt ist sie allerdings schnell in die Defensive geraten, weil sich im Verlauf der Diskussionen herausgestellt hat, dass letztlich deutlich weniger Menschen von dieser Maßnahme profitieren als suggeriert wurde.
Einer der Hauptkritikpunkte ist außerdem, dass durch die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre Beschäftigte benachteiligt würden, die früh angefangen haben zu arbeiten. Künftig sollen 43 Beitragsjahre erforderlich sein, um eine volle Rente beziehen zu können. Wer schon vor 20 ins Berufsleben eingetreten ist, müsste demnach aber länger einzahlen. Das wird als ungerecht wahrgenommen.
Wie steht es um die zukünftigen Rentnerinnen in Frankreich?
Frauen könnten tendenziell schlechter gestellt werden. Sie müssten im Schnitt wohl einige Monate länger arbeiten als Männer, ehe sie abschlagsfrei in Rente gehen dürfen. Zugeständnisse wollte die Regierung nicht machen, da diese dem eigentlichen Ziel der Reform zuwiderläuft, Defizite zu verhindern. Vor diesem Hintergrund hat sie den Kampf um die öffentliche Meinung bis auf Weiteres verloren. In Umfragen lehnen rund 70 Prozent der Französinnen und Franzosen diese Reform ab.
Die Anhebung der Beitragsjahre bedeutet übrigens auch, dass für viele Französinnen und Franzosen ein Renteneintritt mit 64 gar nicht infrage kommt, weil sie ihre Beitragsjahre noch nicht zusammenhaben; die volle Rente ohne Abschläge gibt es auch in Frankreich zukünftig spätestens mit 67.
Inwieweit beeinflussen die französischen Renten-Entwicklungen Deutschland?
Die Premierministerin hat noch einmal die Notwendigkeit der Reform unterstrichen und darauf hingewiesen, dass es nicht möglich sei, alles über Schulden zu finanzieren. Emmanuel Macron war 2017 mit dem Ziel angetreten, Reformen anzustrengen und die Verschuldungsgrenzen in Europa einzuhalten, nicht zuletzt, um Vertrauen bei den europäischen Partnern und vor allem Deutschland aufzubauen. Durch die Gelbwestenkrise und insbesondere die Covid-Pandemie ist die Staatsverschuldung stark angestiegen, und gleichzeitig stehen wichtige Zukunftsinvestitionen an. Die Argumentation lautet daher, dass Reformen wie diese unerlässlich sind, auch wenn sie wehtun.
Macron und der Senat haben sich nicht vom starken Protest von Gewerkschaften und der Bevölkerung beeindrucken lassen und für die Rentenreform gestimmt. Nun wurde die Abstimmung in der Nationalversammlung übersprungen.
Die Regierung hatte tagelang eruiert, ob es realistisch ist, eine absolute Mehrheit für die Reform zu erreichen. Doch trotz der Zugeständnisse, die sich im Text des Vermittlungsausschusses wiederfanden und sich vor allem an skeptische Abgeordnete der konservativen Républicains richteten, konnte sie sich nicht sicher sein, die Abstimmung zu gewinnen. Der Gefahr einer Niederlage wollte sie sich nicht aussetzen. Daher der Rückgriff auf den Artikel 49.3, der es in bestimmten Fällen ermöglicht, ein Gesetz per Verordnung in Kraft zu setzen.
Bitte erläutern Sie den Schritt.
Die Opposition kann binnen 24 Stunden einen Misstrauensantrag stellen - was in Bezug auf die Rentenreform definitiv der Fall sein wird. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass dieser eine Mehrheit findet, sodass die Premierministerin bis auf Weiteres im Amt bleiben dürfte. Im Vermittlungsausschuss hat man sich aber gestern darauf geeinigt, dass der Renteneintritt überwiegend nach 43 Jahren erfolgen soll. Es wird dennoch Menschen geben, die etwas länger arbeiten müssen; damit ist die Regierung auf die Kritiker aus den Reihen der konservativen Républicains zugegangen.
Was geschieht nun weiter?
Eine drohende Niederlage bei der Abstimmung ist abgewendet worden, aber die Regierung zahlt einen hohen Preis. Die Tatsache, dass es ihr nicht gelungen ist, eine Mehrheit im Parlament zu organisieren, und sie zum letzten Mittel greift, um die ungeliebte Reform durchzusetzen, bringt sie bei vielen Französinnen und Franzosen noch mehr in Misskredit. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich ein Teil der Demonstranten radikalisiert und zu noch drastischeren Mitteln greift, um sich Gehör zu verschaffen. In einer solchen Situation könnte den Gewerkschaften die Kontrolle über das Protestgeschehen entgleiten. In dem Fall wäre aber auch damit zu rechnen, dass der Rückhalt für diese Formen des Protests schwindet.
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