Deutschland kontrolliert seit Sonntag seine Grenze zu Österreich, der südliche Nachbar führt ebenfalls wieder Kontrollen ein, Ungarn macht seinen Zaun zu Serbien endgültig dicht. Während die einen diese Maßnahmen als längst überfällig begrüßen, werden sie von anderen als überzogen und menschenfeindlich kritisiert.

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Als Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Sonntagnachmittag die Einführung vorübergehender Kontrollen an der Grenze zu Österreich ankündigte, wurde die Maßnahme von der Mehrheit der Länder und Kommunen begrüßt. Zuvor waren vor allem Bayern und Nordrhein-Westfalen durch den erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen an die Grenze ihrer Aufnahmekapazität gestoßen. De Maiziére sagte auf einer Pressekonferenz, die Entscheidung, die im Einklang mit dem Schengener Abkommen stehe, sei "auch aus Sicherheitsgründen dringend notwendig".

Alternative Flüchtlingsrouten
Alternative Flüchtlingsrouten nach der Grenzschließung © dpa / dpa-infografik GmbH

Laut Schätzungen der österreichischen Regierung sollen sich derzeit noch rund 200.000 Menschen auf der Balkanroute zwischen Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich befinden. Aber werden geschlossene Grenzen die Asylsuchenden tatsächlich davon abhalten, ihr Wunschziel – bei der Mehrheit ist es Deutschland – zu erreichen? Inwiefern werden sich die Schleuser auf die neue Situation einstellen? Und was bedeutet die Abschottungspolitik angesichts des nahenden Winters für die Menschen?

Balkanroute wird umgeleitet

Dass die Zahl der Menschen, die an die Südgrenze Deutschlands drängen, tatsächlich abnehmen wird, ist eher unwahrscheinlich. Schon länger erwarten Beobachter angesichts der sich abzeichnenden Grenzschließung zwischen Ungarn und Serbien eine Verschiebung der Balkanroute über Bosnien, Kroatien und Slowenien nach Österreich. Am Mittwochvormittag sind die ersten Busse mit Flüchtlingen an der serbisch-kroatischen Grenze angekommen. Kroatien kündigte bereits an, die Flüchtlinge passieren zu lassen und überlegt mit Slowenien einen Fluchtkorridor einzurichten.

Auch über Rumänien, die Ukraine, die Slowakei und Tschechien kommen immer wieder Flüchtlinge bis nach Deutschland. Und selbst über die russisch-norwegische Grenze nördlich des Polarkreises kamen schon Menschen nach Europa.

Solche kaum frequentieren Routen könnten in Zukunft stärker genutzt werden. Dass viele Flüchtlinge angesichts der menschenunwürdigen Behandlung in Ungarn und der fremdenfeindlichen Politik der Orban-Regierung dort verbleiben, gilt jedenfalls als unwahrscheinlich, auch wenn sie nach dem Dubliner Abkommen eigentlich im EU-Erstaufnahmeland Asyl beantragen müssten. Auch in Serbien wird sich nur ein Bruchteil der Flüchtlinge um Asyl bemühen – bis August waren es gerade einmal 500 der 83.000 Registrierten.

"Grenzkontrollen werden die Flucht der Menschen nicht verhindern, sie möchten dorthin gelangen, wo sie Chancen auf Integration und den Start eines neuen Lebens haben", heißt es in einer Erklärung von "Pro Asyl". Das beweist auch die aktuelle Eskalation an der ungarisch-serbischen Grenze, wo Flüchtlinge versucht haben, den Grenzzaun mit Gewalt zu überwinden.

Derzeit wird zudem befürchtet, dass viele Flüchtlinge die deutsch-österreichische Grenze über den Inn überwinden könnten. Da viele von ihnen nicht schwimmen können, ein lebensgefährliches Unterfangen. Für Jule Nagel, flüchtlings- und migrationspolitische Sprecherin der Linken im sächsischen Landtag, geht aus der Entscheidung des Bundesinnenministers deshalb nur ein Gewinner hervor: die Schleuserbanden. "Die Flucht wird gefährlicher, die Routen werden sich ändern und die Schleuser werden noch mehr Profite machen", ist die Politikerin überzeugt.

Der Winter droht

Angesichts des nahenden Winters wird sich die Situation vermutlich weiter zuspitzen, zumal derzeit immer mehr Familien mit Kindern auf dem Weg nach Europa sind. Selbst in Österreich hausen viele Menschen derzeit im Freien oder in Parkhäusern. "Häufig fehlen einfach elementare Standards", beklagt Jule Nagel. Für die 36-Jährige wird die Rückkehr zu Grenzkontrollen auf dem Rücken dieser Menschen ausgetragen, obwohl es ein Gebot sei, "sie aufzunehmen". Die offizielle Begründung des Bundesinnenministers, mit einem geordneten Verfahren für mehr Sicherheit, beispielsweise vor illegal ins Land kommenden Dschihadisten, zu sorgen, hält sie für eine Schutzbehauptung. Auch Sicherheitsexperten sagen, dass eine Gefahr vielmehr von deutschen IS-Anhängern ausgeht.

Selbst EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sprach angesichts der deutschen Grenzkontrollen von einem "taktischen Zug", um bei den europäischen Partnern "das Bewusstsein für die Schwere der Situation zu schärfen".

Kritiker sehen in den Kontrollen jedenfalls keine probate Lösung der Krise, zumal Deutschland und die anderen Schengen-Staaten ihre EU-Binnengrenzen nur vorübergehend kontrollieren dürfen. "Pro Asyl" bezeichnet sie sogar als "fatales Signal für Europa und den Flüchtlingsschutz." Noch mehr europäische Staaten könnten so ermuntert werden, ihre Grenzen zu schließen.

Ein Zurück in die Perspektivlosigkeit nach Afghanistan, in den Irak, nach Syrien oder nach Afrika gibt es für die meisten Hilfesuchenden nicht. Nun wird ihre Flucht bis auf Weiteres noch umständlicher, noch teurer – und noch gefährlicher.

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