Der Asylstreit brachte die GroKo im Sommer ins Wanken. Aktuelle Fallzahlen des Innenministeriums lassen an der Sinnhaftigkeit der Debatte zweifeln. Doch Politikwissenschaftler Eric Linhart warnt vor Fehlschlüssen.
Heute scheint es im Berliner Regierungschaos schon fast wieder untergegangen zu sein, noch vor vier Monaten kannte der politische Betrieb jedoch kein anderes Thema als den Asylstreit, der sich um die Zurückweisung von Geflüchteten an den Grenzen und den Familiennachzug drehte.
Die Große Koalition stand auf der Kippe: "Wie der Asylstreit die GroKo sprengen könnte" oder "Schicksalstage für die Große Koalition" lauteten die Schlagzeilen.
Zahlen des Innenministeriums lassen aufhorchen
Im schwarz-schwarzen Schwesternstreit setzte sich Innenminister
Zuvor hatte das nicht gegolten, wenn die Betroffenen einen Asylantrag gestellt hatten. Merkel war dafür eingetreten, eine Zurückweisung nur in Absprache mit den europäischen Partnern vorzunehmen.
Das Innenministerium hat dazu nun Zahlen vorgelegt: Zwischen dem 19. Juni und dem 17. Oktober wurden demnach 89 Migranten aufgrund einer Wiedereinreisesperre zurückgewiesen, nur drei von ihnen hatten einen neuen Asylantrag gestellt - und waren somit von Seehofers Erlass betroffen.
Auch beim Familiennachzug lassen die Zahlen aufhorchen. Laut Innenministerium sind - wohl aufgrund langsamer Prüfungen - bisher nur 42 Anträge eingegangen, obwohl lange um das Kontingent von 1.000 möglichen Einreisevisa gerungen worden war.
Zwei Fragen liegen nahe: War der ganze Streit umsonst? Und Hätte nicht von Beginn an klar sein müssen, dass es um eine vernachlässigbare Anzahl an Fällen geht?
Experte warnt vor falschen Interpretationen
Politikwissenschaftler Prof. Dr. Eric Linhart von der Universität Chemnitz warnt davor, die Zahlen misszuinterpretieren: "Vorsicht vor Fehlschlüssen!"
Es lasse sich aktuell zwar nur spekulieren, die niedrigen Fallzahlen könnten aber durch verschiedene Szenarien zustande gekommen sein.
"Plausibel sind zwei Erklärungen. Die erste lautet: Der Erlass ist wirksam. Die Menschen haben mitbekommen, dass sie an der Grenze abgewiesen werden und versuchen nicht mehr einzureisen", sagt der Experte.
Sein zweiter Erklärungsansatz: "Die Menschen haben andere Wege zur Einreise gefunden und nutzen statt des deutsch-österreichischen Grenzübergangs alternative Wege, versuchen die Einreise etwa über Polen."
Regierung rechnete mit 100 Fällen pro Monat
Bis Juni 2018 kamen im Schnitt etwa 12.000 Menschen monatlich nach Deutschland. Zurückweisungen an der Grenze von Menschen mit Einreiseverbot waren zu dieser Zeit bereits gängige Praxis.
Im Faktenfinder der "Tagesschau" war damals zu lesen: "Insgesamt gab es 2017 in den ersten sechs Monaten 5.874 Zurückweisungen - aus unterschiedlichen Gründen, beispielsweise wegen fehlender oder gefälschter Papiere. Laut der Antwort der Regierung gab es lediglich 27 Fälle, bei denen Personen wegen eines bestehenden Einreiseverbots abgewiesen wurden."
Die Bundespolizei zählte aber nach eigenen Angaben seit Januar 2017 monatlich im Schnitt rund 100 Fälle von verbotener Wiedereinreise zuvor abgeschobener Migranten. Die Betroffenen hatten aufgrund einer bereits erfolgten Abschiebung ein Wiedereinreiseverbot, konnten an der Grenze aber nicht zurückgewiesen werden, weil sie einen Asylantrag stellten.
Linhart will deshalb auch nicht von einer Fehleinschätzung der Lage sprechen, im Gegenteil: "Die Betrachtung der Fallzahlen von Januar bis Mai 2018 legte eine Zahl von 100 Fällen pro Monat nahe. Die Prognose konnte nur auf Grundlage dieser vorliegenden Zahlen getroffen werden und ist somit nachvollziehbar."
Konflikt um Grundwerte
Der Experte urteilt: "Es wäre wohlfeil zu sagen, dass die Debatte überflüssig war, nur weil die jetzt vorliegenden Zahlen so gering ausfallen." Denn es gehe in Streits um Asyl- und Migrationsfragen um mehr - nämlich aufeinanderprallende Grundüberzeugungen und Werte.
"Das Bild eines Europas der Freizügigkeit mit offenen Grenzen im Schengen-Raum traf im Asylstreit auf die Überzeugung, dass Rechtsdurchsetzung an Grenzen ein hohes Gut ist", sagt der Politikwissenschaftler.
Man habe daher nicht "aus einer Mücke einen Elefanten gemacht", der Streit um diese Grundpositionen habe sich lediglich an einer Einzelfrage entladen. Der beschriebene Konflikt sei unabhängig von der Zahl der Rechtsüberschreitungen.
Politiker-Schelte sei also nicht angebracht, wenn es um die Inhalte gehe, betont Linhart, wohl aber in Bezug auf den Stil der damals geführten Debatte.
Für die beteiligten Parteien ging es nämlich um viel - ihre Stellung und Bedeutung im Parteiensystem, für die SPD sogar ums Überleben. Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen leisteten ihren Beitrag: Migration und Asylpolitik wurden und werden als wahlrelevante Themen angesehen.
"Die regierenden Parteien registrierten, dass die AfD quasi alleinig mit dem Thema Asyl und Migration erfolgreich ist", beobachtete auch Experte Linhart. "Die Parteien fragen sich natürlich: Wie gehen wir damit um?"
Auf der einen Seite habe es dabei die Auffassung gegeben, man müsse den rechten Rand schließen, das Thema selbst besetzen und der Wählerschaft zeigen, dass sie dafür nicht die AfD brauchen. "Das war im Grunde die Seehofer-Position in diesem Konflikt", erinnert Linhart.
Er zeichnet nach, was den Streit so groß machte: "Auf der anderen Seite wurde argumentiert, man müsse klar einen Gegenpol zur AfD bilden, ihr nicht hinterherlaufen oder sie durch Übernahme ihrer Argumente aufwerten." Dann würden sich viele Wähler eher für das Original als für die Parteien entscheiden, die eine Haltung imitierten.
Quittung für die Union bei den Landtagswahlen
Den Vorwurf, dass die Debatten nur zum Schein geführt worden und völlig überzogen gewesen seien, kann Linhart aber nachvollziehen. "Politik lebt zwar von kontroversen Diskussionen, aber nicht jeder Streit muss in dieser Form nach außen getragen werden. Die Debatte wurde häufig nicht sachlich geführt, das ist deutlich zu kritisieren."
Die Quittung dafür haben die Regierungsparteien bei den vergangenen Landtagswahlen in Bayern und Hessen erhalten: Sowohl Union als auch SPD verzeichneten jeweils Verluste von mehr als zehn Prozentpunkten.
"Wähler erwarten von Politikern, dass sie um die Sache streiten. Eine Debatte in dieser Art und Weise und mit einer solchen Kakophonie goutieren Wähler jedoch nicht", urteilt Linhart.
Er erkennt in dem Streit von vor vier Monaten auch einen Anteil an "Scheindebatte" und weiß: "Es ist eine beliebte Maßnahme, mit Symbolpolitik Debatten zu befrieden und Probleme augenscheinlich zu lösen." Symbolpolitik koste nichts, aber man könne nach außen vorgeben, aktiv zu sein.
"Wenn die Wähler aber etwas als Symbolpolitik entlarven, heizt das die Debatte zusätzlich auf und leistet Politikverdrossenheit Vorschub." Dazu zählten auch die Rücktrittsdrohungen von Horst Seehofer oder das Schielen auf Kompetenzen. Teilweise sei auch der Eindruck entstanden, es würde nur nach einem Aufhänger gesucht, um gegen die GroKo zu argumentieren.
Experte: Umdenken hat stattgefunden
Und heute? Warum ist vier Monate und eine Bayern-Wahl später die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich nur noch ein Randthema?
"Es hat teilweise ein Umdenken stattgefunden", glaubt Experte Linhart. Die Koalitionsparteien hätten wahrgenommen, dass es einen beträchtlichen Anteil unter den Wählern gebe, der sage: "Wir wollen uns nicht immer nur mit Asyl- und Migrationspolitik beschäftigen, andere Themen sind für unseren Alltag mindestens genauso wichtig."
Linhart mutmaßt daher: "Aktuell wird deshalb versucht, das Thema etwas niedriger zu hängen und andere Themen aufzuwerten."
Verlieren die amtierenden Politiker dafür aber das Gespür, kann das fatale Folgen haben: Wähler fühlen sich nicht mehr repräsentiert, wenden sich von der Politik als Ganzes ab oder wählen aus Protest Randparteien. An sie geht außerdem das Signal: "Die Streitigkeiten belegen die Instabilität der Regierung", sagt Politologe Linhart.
Auch wenn die aktuellen Zahlen zur Zurückweisung an der Grenze den Asylstreit also einmal mehr unverhältnismäßig erscheinen lassen: Der dahinter liegende Streit dreht sich um Grundwerte und Parteiexistenzen.
Berechtigte Kritik gilt aber dem Streitstil und der ungeheuren Aufmerksamkeit, die die Debatte auf sich gezogen hatte. Laut Linhart daher ratsam: "Stets sachlich um Inhalte streiten, und sich auch einmal mit anderen Themen befassen."
Verwendete Quellen:
- HuffingtonPost.de: "Wie der Asylstreit die GroKo sprengen könnte"
- Sueddeutsche.de: "Schicksalstage für die Große Koalition"
- Tagesschau Faktenfinder: Einreise trotz Verbots?
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