Zehntausende haben am Sonntag unter anderem gegen Ministerpräsident Dmitri Medwedew mobil gemacht, werfen ihm Korruption vor. Doch während der Organisator, der Oppositionelle Alexej Nawalny sowie Hunderte Demonstranten festgenommen wurden, muss Medwedew wenig befürchten - auch nicht von Wladimir Putin. Russland-Experte Dr. Stefan Meister erklärt, wieso das so ist und wie es zu den Protesten kam.

Ein Interview

Widerstand gegen ein aus ihrer Sicht korruptes System: In Russland sind am Sonntag Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um auf Missstände in ihrem Land hinzuweisen.

Mehr aktuelle News

Dazu aufgerufen hatte der Kremlkritiker Alexej Nawalny, der bei den Protesten festgenommen wurde - genauso wie mehrere Hunderte Personen.

Im Fokus der Anschuldigungen stand Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Dieser soll Nawalny zufolge Korruption in großem Stil betrieben haben.

Einen Tag nach den landesweiten Protesten wurde Oppositionspolitiker Nawalny als Organisator zu Arrest und einer Geldbuße verurteilt. Der 40-Jährige will bei der Präsidentenwahl im März 2018 gegen Amtsinhaber Putin kandidieren, der wahrscheinlich zur Wiederwahl antritt.

Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Russland-Experte Dr. Stefan Meister, wie es zu den Demonstrationen kam, warum Medwedew trotz allem nur wenig zu befürchten hat und wieso von Nawalny für Wladimir Putin keine ernste Gefahr ausgeht.

Herr Meister, in Russland wächst die Wut gegen vermeintlich korrupte Politiker - insbesondere gegen Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Was steckt genau hinter den Demonstrationen?

Dr. Stefan Meister: In Russland staut sich etwas auf, das sich jetzt entladen hat. Die wirtschaftliche Situation der Menschen hat sich verschlechtert, zudem gibt es eine Unzufriedenheit über das extrem korrupte politische System. Und dann zu sehen, wie sich die Elite weiter selbst bereichert, ist für die Menschen in Russland sehr frustrierend.

Muss Medwedew durch die vermeintlichen Enthüllungen etwas befürchten?

Putin hat nie jemanden fallen lassen, der wegen Korruption angeklagt wurde. Selbst wenn es massive Beweise gab und die Leute verhaftet wurden, sind sie später wieder freigesprochen worden.

Auf der staatlichen Ebene findet über Medwedews Verfehlungen ohnehin keine Debatte statt, sie werden ignoriert. Alle wissen es, alle machen es - warum soll der Staat also darauf reagieren? Es ist nun mal ein hochkorruptes System.

Medwedew ist damit aus dem Schneider?

Es wurde mehrfach vorausgesagt, dass Medwedew demnächst ausgetauscht wird - diese These gibt es schon seit Jahren, aber es ist nie passiert.

Medwedew ist für Putin sehr praktisch. Er gilt als schwach, als wenig durchsetzungsfähig. Auf ihn kann der Staat sämtliche negativen Entscheidungen abwälzen.

Wenn nach Putins Wiederwahl Wirtschaftsreformen durchgeführt werden, dann würde das System selbst entscheiden, ob man Medwedew aus Effizienzgründen austauschen muss, man wird es aber nicht aufgrund der Proteste auf der Straße tun.

Könnte sich in Russland nicht ein Pulverfass entzünden, wenn einer der Hauptgründe für die Demonstrationen nicht aufgearbeitet wird?

Das System in Russland denkt anders: Es wäre ein Zeichen von Schwäche, Medwedew als Folge der Demonstrationen abzusetzen.

Die Menschen werden lieber unterdrückt, ihnen wird Angst eingejagt, sie werden systematisch verhaftet.

Wer sind die Menschen, die auf die Straße gehen und demonstrieren?

Es sind viele junge Leute, die das Gefühl haben, dass sich ihre Zukunftsperspektiven aufgrund der Wirtschaftslage und des Arbeitsmarkts verschlechtern. Zudem gibt es in Russland eine Einschränkung des gesamten Internets, hier wird massiv kontrolliert.

Die Angst wächst, die Freiheiten zu verlieren, die man im postsowjetischen Russland einst bekommen hat und dass man gleichzeitig dafür ökonomisch büßen muss.

Besteht für Putin durch die Demonstrationen die Gefahr, dass er geschwächt wird?

Für Putin haben die Demonstrationen wenige Auswirkungen. Viele Demonstranten werden immer noch der Meinung sein, dass Putin der richtige Präsident ist beziehungsweise es kaum bis keine Alternativen zu ihm gibt. Ihn persönlich werden diese Demonstrationen auch im Hinblick auf seine Wiederwahl kaum angreifen, da er alternativlos erscheint. Für das System Putin sind die Demonstrationen aber doch eine gewisse Gefahr.

Inwiefern?

Schlüsselfiguren aus Putins Umfeld sind im höchsten Maße der Korruption überführt worden. Wir sehen aber auch, dass das System degeneriert, weil die handelnden Personen stets aus dem Inneren des Systems rekrutiert werden. Es gibt zudem immer weniger Kritikmöglichkeiten, weil keine echten Wahlen stattfinden.

Die Zustimmung der Menschen zur Politik und zu Institutionen nimmt wieder ab und alles hängt an der Person Putin, was sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, zumal wenn es dem Land ökonomisch weiter schlecht gehen sollte, direkt auf den Präsidenten auswirken könnte. Das wird allerdings noch nicht zur Wahl 2018 passieren, sondern danach, wenn vielleicht auch schwierige Entscheidungen bezüglich der Wirtschaft getroffen werden müssen.

Alexej Nawalny hatte zu den Demonstrationen aufgerufen und wurde festgenommen. Der Kremlkritiker will 2018 bei der Präsidentenwahl gegen Putin kandidieren. Ist seine Festnahme ein Kalkül der Regierung?

Wenn der Staat nicht wollen würde, dass Nawalny gegen Putin antritt, dann hätte er es schon längst verhindern können. Es laufen zwei Verfahren gegen ihn, es wäre also überhaupt kein Problem, ihn außer Gefecht zu setzen.

Was steckt dann hinter der Festnahme?

Der Staat spielt mit Nawalny. Er wird benutzt, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass es im Land doch noch einen gewissen Pluralismus gibt. Doch wenn er gefährlich werden sollte, wird er außer Gefecht gesetzt, egal ob durch ein Verbot, an den Wahlen teilzunehmen oder durch eine Verhaftung. Man kann für ihn immer einen Fall kreieren.

Wäre Nawalny denn bei der Wahl 2018 eine Bedrohung für den Präsidenten?

Nawalny ist keine Bedrohung, auch wenn er bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung eine Wirkung erzielt. Er wird bei der Wahl mehr Stimmen als alle anderen Putin-Kontrahenten bekommen, aber er wird niemals die Mehrheit erreichen. Das System hat die Vorbereitung der Wahlen komplett unter Kontrolle. Wenn Nawalny zum Problem werden würde, was ich nicht glaube, würde er einfach aus dem Verkehr gezogen werden. Es gibt momentan niemanden, der Putin gefährden könnte.

Zur Person: Dr. Stefan Meister ist seit Januar 2017 Leiter des Robert-Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er arbeitet zu russischer Innen-, Außen- und Energiepolitik, deutsch-russischen Beziehungen und Russlands Politik gegenüber den postsowjetischen Staaten, zu Konflikten in der Region insbesondere im Kaukasus, zur Östlichen Partnerschaft der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.