Die Ungleichheit wächst in Deutschland. Damit zusammen hängt auch die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft. Was bedeutet Klassismus für unsere Demokratie? Fragen an Expert*in Francis Seeck.

Ein Interview

Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland weit auseinander. Der Global Wealth Report der Boston Consulting Group kam im Juli zu dem Schluss, dass Vermögen in Deutschland besonders ungleich verteilt ist. 3.300 Superreiche besitzen demnach 23 Prozent des gesamten Vermögens. Gleichzeitig diskutieren Politik und Öffentlichkeit über Einsparungen bei Bürgergeld-Empfängern – immer wieder wird dabei auch die Erzählung der arbeitsunwilligen Totalverweigerer bemüht.

Mehr aktuelle News

"Es wird wieder ein Feindbild geschaffen", sagt Francis Seeck dazu. Seeck hat eine Professur für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschenrechtsbildung an der Hochschule Nürnberg und forscht und lehrt zu Klassismus, also der Diskriminierung aufgrund der sozialen Klasse. Im Interview spricht Seeck darüber, was das für unsere Gesellschaft bedeutet und was wir gegen diese Art der Diskriminierung tun können.

Was halten Sie von der anhaltenden Bürgergeld-Debatte, Francis Seeck?

Francis Seeck: Es wird wieder ein altes Feindbild neu belebt: faule Erwerbslose. Dabei wird nicht bedacht, dass viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, arbeiten – in Vollzeit oder Teilzeit. Die sogenannten Aufstocker*innen. Andere sind chronisch krank oder pflegen Angehörige. Wir haben eine sehr diverse Gruppe von Menschen mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten und -bedingungen. Der starre Fokus auf die sogenannten Arbeitsverweiger*innen macht die Situation für alle schlechter. Zur Wahrheit gehört auch: Manche Menschen erhöhen ihren Selbstwert, indem sie nach unten treten.

In Ihrer Forschung und Lehre beschäftigen Sie sich mit dem Thema Klassismus. Was ist das überhaupt?

Beim Klassismus geht es um die Diskriminierung entlang von sozialer Herkunft oder sozialem Status. Betroffen sind beispielsweise erwerbslose Menschen, Bürgergeld-Empfänger*innen, wohnungslose Menschen, Arbeiter*innenkinder im Bildungssystem – insgesamt handelt es sich um eine große Gruppe.

Bei anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Sexismus wird von Internalisierung – also der Verinnerlichung – gesprochen. Haben wir das Problem auch beim Klassismus?

Beim Klassismus sehen wir das ganz stark. Die Erzählung ist: Wer sich hart anstrengt, kann viel schaffen. Menschen, die Bürgergeld beziehen, wird oft vorgeworfen, sie hätten sich nicht genug angestrengt – ihnen wird die Schuld an ihrer Situation gegeben. Diese These wird oft in das eigene Selbstbild aufgenommen.

Inwiefern?

Im Gespräch mit Erwerbslosen-Initiativen oder Beratungsstellen wird mir immer wieder berichtet, dass viele Betroffene mit Schuldgefühlen und Scham zu kämpfen haben. Das kann zu Isolation führen und zu psychischem Leiden.

Klischees, Vorurteile und Isolation: Was bedeutet Klassismus für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Klassismus ist ein Problem für die Gesellschaft. Er wird zum Beispiel von rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen genutzt, um Hass und Hetze zu schüren. Das geht so weit, dass wohnungslose Menschen von Rechtsextremen angegriffen und ermordet werden. Rechte Parteien versuchen, Erwerbslosenfeindlichkeit strategisch für sich zu nutzen und sich als Fürsprecher für die Arbeiterklasse zu inszenieren.

Deswegen braucht es mehr Demokratie- und Menschenrechtsbildung. Positiv zu bewerten ist, dass sich immer mehr Bündnisse bilden, die etwas gegen Klassismus und andere Formen von menschenverachtenden Einstellungen tun wollen. Die große Gefahr ist, dass die Stimmung kippt und die Feindlichkeit gegenüber armutsbetroffenen Menschen zunimmt. Zumal diese Gruppen bereits heute meist weniger gesellschaftliche Teilhabe haben.

Das müssen Sie erklären.

Armutsbetroffene Menschen engagieren sich genauso wie Menschen ohne akademische Abschlüsse seltener in Parteien und in Sozialen Bewegungen. Das kann dazu führen, dass sie sich stark aus dem politischen Raum und der gesellschaftlichen Teilhabe zurückziehen. Durch Klassismus fühlen sich diese Menschen vom politischen System gar nicht mehr gesehen.

Bedroht das unsere Demokratie?

Ja, Klassismus ist eine Gefahr für die Demokratie und wird von rechten Kräften für den Stimmenfang genutzt. Wir sehen das in der Sozialen Arbeit: Es gibt immer mehr rechtsextreme Gruppen, die versuchen, solche Angebote zu unterwandern.

Wie genau geschieht das?

Sie versuchen Wohnungsloseneinrichtungen zu übernehmen oder bauen Suppenküchen auf – natürlich nur um ihre rassistischen Gedanken zu verbreiten. Die soziale Ungleichheit wird genutzt, um Demokratie zu unterwandern und antidemokratische, demokratiefeindliche Meinungen zu verbreiten.

Was können wir dagegen tun?

Politik muss die Breite der Gesellschaft abbilden. Dafür müssen demokratische Parteien versuchen, Klassismus in ihren eigenen Strukturen abzubauen. Sie müssen zugänglicher werden für Menschen ohne akademische Bildungsabschlüsse. Und natürlich müssen sich diese Parteien mit der sozialen Frage beschäftigen. Sozialer Status und soziale Herkunft sollten außerdem stärker im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berücksichtigt werden: Es braucht einen Diskriminierungsschutz. Bislang gibt es den nur in Berlin durch das Landesantidiskriminierungsgesetz.

Was würde sich dadurch ändern?

Betroffene von klassistischer Diskriminierung bekämen so eine rechtliche Handhabe. Sie könnten sich wehren – und ihre Diskriminierungserfahrungen würden anerkannt. Auch im Umgang mit staatlichen Behörden oder auf dem Wohnungsmarkt ist das ein wichtiger Punkt. Bürgergeld ist beispielsweise immer wieder ein Ausschlusskriterium für Vermietende.

Haben Sie Hoffnung, dass Bildung die Chancengerechtigkeit langfristig erhöht?

Nicht wirklich, die Möglichkeit, Bildungsabschlüsse zu erlangen, hängt noch immer maßgeblich von der sozialen Herkunft ab.

Wie ließe sich das aufbrechen?

Wir müssen bei den Lehrer*innen ansetzen und verpflichtende Fortbildungen zum Thema Klassismuskritik anbieten. Die IGLU-Studie zeigt, dass Arbeiter*innen-Kinder mehr Punkte beispielsweise in Rechtschreibung erreichen müssen, um die gleiche Note wie Akademikerkinder zu bekommen. Es braucht außerdem mehr Arbeiter*innen-Kinder, die selber Lehrer*innen werden und so diese Perspektiven einbringen können. Aber Bildung allein kann nicht alles ausgleichen. Wir leben noch immer in einer Gesellschaft mit extremen Vermögensunterschieden. Bildungsgerechtigkeit kann Klassismus nicht auflösen, sie wäre lediglich ein Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit.

Zur Person

  • Prof. Dr. Francis Seeck ist Professor*in für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschenrechtsbildung an der Technischen Hochschule Nürnberg. Seeck forscht und lehrt zu Klassismuskritik, politischer Bildung und menschenrechtsorientierter Sozialer Arbeit. Seit 2010 arbeitet Seeck in der Politischen Bildungsarbeit. Seeck identifiziert sich als non-binär.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.