Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler hat in Brüssel dem Renaturierungsgesetz zur Mehrheit verholfen und damit ein Beben in ihrer Koalition ausgelöst. Ein mutiger Schritt oder blinder Aktionismus?

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Es war eine Kraftprobe mit Ansage. Am Sonntagabend war Leonore Gewessler in Wien vor die Presse getreten. Am Montag werde sie beim Treffen der EU-Umweltminister in Brüssel dem umstrittenen Renaturierungsgesetz zustimmen, kündigte sie an. "Für mich gilt: Die Zeit der Entschlossenheit ist gekommen." Sie habe sich diesen Entschluss nicht einfach gemacht, sagte Gewessler noch. Und sie nehme ihn auch nicht auf die leichte Schulter.

Die Grünen-Politikerin ist Österreichs Klimaschutz- und Umweltministerin. Das zu erwartende politische Beben hat sie in dieser Woche in der Tat ausgelöst. Am Montag verhalf Gewessler in Brüssel dem umstrittenen EU-Renaturierungsgesetz mit ihrer Stimme zur Mehrheit – gegen den Willen ihres konservativen Koalitionspartners ÖVP.

Deren Politiker schäumten. Bundeskanzler Karl Nehammer will zwar an der Koalition mit den Grünen festhalten. Doch die ÖVP kündigte am Montagabend auch an, Gewessler wegen mutmaßlichen Amtsmissbrauchs strafrechtlich anzuzeigen. "In der Koalition herrscht offener Krieg, nicht mit Waffen, aber mit Worten und Paragrafen", kommentierte der Wiener "Standard" am Morgen danach.

Leonore Gewessler: Stets kulant, aber hart in der Sache

Dass dieser Koalitionskrieg ausgerechnet von der Umweltministerin ausgelöst wird, war nicht unbedingt zu erwarten. Gewessler sei keine, die "groß auf den Tisch haut", schreibt die Kleine Zeitung über sie. "Die meist distanziert wirkende 46-Jährige bleibt stets kulant im Ton, dabei aber auch hart in der Sache."

So war es auch am Sonntag bei ihrem Pressestatement. Das Gesetz, dem Gewessler gegen den Willen ihres Koalitionspartners zur Mehrheit verhalf, verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, bis 2030 mindestens 20 Prozent der Flächen und Meeresgebiete zu renaturieren, um Pflanzen und Tiere zu schützen. Entwässerte Moore sollen wieder vernässt werden, Flüsse wieder frei fließen, Wälder wieder natürlicher wachsen.

Landwirte und christdemokratische Politiker finden das übergriffig – und wollten das Renaturierungsgesetz verhindern. Die Natur sei unter Druck, weil der Mensch immer mehr Platz brauche, sagte dagegen Gewessler. "Ich kann es mit meinem Gewissen nicht verantworten, im entscheidenden Moment von der Verantwortung davonzulaufen."

Schlüsselposten im Kabinett

In der Politik hat Gewessler vergleichsweise spät, dafür aber schnell Karriere gemacht. Die Politikwissenschaftlerin war Geschäftsführerin der Umweltschutzorganisation Global 2000 und setzte sich unter anderem für ein Verbot des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat ein.

Bei den Wahlen 2019 zog sie dann für die Grünen in den Nationalrat ein – als Nummer Zwei der Partei hinter dem späteren Vizekanzler Werner Kogler. Kurz danach wurde sie Ministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie.

Gewessler hat damit eine Schlüsselposition in der heiklen türkis-grünen Koalition mit der ÖVP inne. Denn der Deal lautete damals vereinfacht: Die Grünen tragen die strenge Asyl- und Migrationspolitik der Konservativen mit – dürfen dafür aber eine ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik umsetzen. Auf diese Abmachung hat die Ministerin jetzt sehr laut gepocht.

Zu verlieren hat sie wenig

Bei Landwirten und in der ÖVP ist der Aufschrei groß. Innenminister Gerhard Karner warf seiner Kollegin "blindwütigen Aktionismus" vor. Die eigenen Anhängerinnen und Anhänger weiß die Ministerin dagegen hinter sich.

In den vergangenen vier Jahren haben die österreichischen Grünen in der Koalition viele schmerzhafte Kompromisse eingehen müssen. Jetzt wollte Gewessler womöglich ein Zeichen setzen. Schließlich wird schon Ende September ein neuer Nationalrat gewählt – der Wahlkampf naht also.

"Viel zu verlieren hat sie persönlich ohnehin nicht", analysiert die "Kleine Zeitung": Dass Gewessler in der nächsten Regierung sitze, sei aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich. Die Koalition sei an ihrem Ende angelangt, vermutet der "Standard". (fab)

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