Ein schwerer Schlag gegen indigene Völker in Brasilien droht: Mit dem Eilantrag mit der Kennung PL490 zum Thema Ausweisung von Indigenengebieten hat der Präsident des Unterhauses die Regierung um Präsident Luiz Inácio Lula da Silva offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt. Sollte der Eilantrag auch den Senat passieren, könnte der Druck auf Indigene und ihre Lebensräume massiv zunehmen.
Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt, ebenso die Ministerin für indigene Völker, Sonia Guajajara. "Der 24. Mai 2023 wird als Tag der Institutionalisierung des indigenen Völkermordes und des brasilianischen Umweltmordes in die Geschichte eingehen", teilt das Ministerium für indigene Völker mit.
Das Ministerium war erst Anfang des Jahres bei Amtsantritt von
Mehrere Gesetze schaden der Umwelt und den Indigenen
Hinzu kommt die vorläufige Maßnahme, die weiterhin die fortschreitende Zerstörung des Atlantischen Waldes erlauben soll. Diese Maßnahme bezieht sich auf das Gesetz Nr. 12.651 zum Schutz der einheimischen Vegetation und verlängert zum sechsten Mal die Fristen für die Umsetzung dieses Forstgesetzes.
Dadurch könnte sich der Prozess der Wiederherstellung von degradierten Flächen, also verlorenem Boden, weiter verzögern. So hätten Grundbesitzer, die den Wald auf ihren Grundstücken über das gesetzlich zulässige Maß hinaus abgeholzt haben, keine Frist mehr, um diese Vegetation wiederherzustellen und würden in dieser unbestimmten Zeit nicht bestraft.
"Jeder erinnert sich an den Wahlkampf von Präsident Lula, der die indigene Agenda in den Mittelpunkt seiner Wahlkampagne stellte und sich verpflichtete, die Prozesse zur Demarkierung der indigenen Gebiete wieder aufzunehmen. Und nun erleben wir, wie der Kongress einen regelrechten Angriff auf dieses Ministerium startet, in einem Land, das 523 Jahre gebraucht hat, um die Bedeutung der indigenen Völker anzuerkennen, und in weniger als fünf Monaten versucht, uns erneut zum Schweigen zu bringen und zu bevormunden", sagt Guajajara.
Und weiter: "Die ganze Welt hat die Erwartung, dass Brasilien sein Engagement im Kampf gegen die Klimakrise wieder aufnimmt. Das internationale Szenario erwartet von der brasilianischen Regierung wirksame Maßnahmen, um die Abholzung zu stoppen und die Umwelt zu schützen."
PL490 könnte unkontaktierte Völker gefährden
Die drei genannten Maßnahmen könnten einen Teil der Wahlkampfversprechen Lulas tatsächlich über den Haufen werfen. Denn der PL490 könnte die Rechte der indigenen Völker bedrohen, da er neben dem Bergbau auch die Nutzung von Wasserkraft und Energie in ihren Gebieten zulässt. Zudem sieht der Gesetzestext vor, dass alle Erkundungsaktivitäten ohne die Einwilligung der direkt betroffenen indigenen Gemeinschaften oder der zuständigen Bundesbehörde für indigene Völker durchgeführt werden können.
Dies kann nicht nur bisher isolierte Völker der Gefahr des Kontaktes aussetzen. Oft sterben große Teile der so kontaktierten Völker an der Einschleppung von Krankheiten.
Ein weiterer Haken an dem Gesetzentwurf: Neue Gebiete könnten unter Umständen gar nicht mehr ausgewiesen beziehungsweise bereits ratifizierte Gebiete erneut bedroht und verfassungsmäßige Rechte außer Kraft gesetzt werden.
Wenn der Gesetzentwurf angenommen werden sollte, wird auch die bislang offene Frage des zeitlichen Rahmens neu zu diskutieren sein. Bislang waren als indigenes Land nur solche Gebiete definiert, die zum Zeitpunkt der Verkündung der Verfassung am 5. Oktober 1988 bereits besetzt waren. Diese sogenannte Stichtagsregelung, der "Marco Temporal", war bislang umstritten und juristisch noch nicht abschließend festgelegt.
Ausweisung von Schutzgebieten für Indigene ist seit Jahrzehnten umstritten
Befürworter der Stichtagsregelung argumentieren jedoch, dass nur Indigene, die sich zum Zeitpunkt des Eintretens der Verfassung in ihren Territorien befanden, das Recht auf deren Demarkierung haben. Die Debatte geht zurück auf einen Konflikt zwischen Indigenen und Landwirten, der im Jahr 2009 begonnen hatte, und der sich um das Recht über das indigene Land Raposa Serra do Sol drehte.
Dieses ist mit 17.430 Quadratkilometern etwa halb so groß wie Nordrhein-Westfalen, umfasst knapp die Hälfte des nordöstlichen Bundesstaat Roraima und ist eines der größten der rund 600 Indigenengebiete, die etwa 13 Prozent der Gesamtfläche Brasiliens ausmachen. Allerdings sind davon bislang nur rund 60 Prozent demarkiert. Mehr als 300 Verfahren sind noch anhängig.
Konflikt zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und Umweltschutz
Das Gebiet Raposa Serra do Sol war in den 1990er-Jahren von der Indigenenbehörde Funai ausgewiesen worden. Nachdem sich jedoch Reispflanzer in Teilen des Gebiets breitgemacht hatten, klagten die Indigenen und bekamen Recht. Der Oberste Gerichtshof ordnete die Räumung an, wogegen der Bundesstaat wiederum klagte. Seine Argumentation: Der Reisanbau trage auf vergleichsweise geringer Fläche wesentlich zur Wirtschaftsleistung des dünn besiedelten Bundesstaats bei. Zudem gab es auch immer wieder Sicherheitsbedenken, da das Reservat im Norden an Venezuela grenzt.
Das Beispiel zeigt die Konfliktlinie auf, um die es bei fast allen Schutzgebieten geht: Der Wunsch nach Wertschöpfung und wirtschaftlichem Fortschritt trifft auf die Interessen der Ureinwohner und des Umweltschutzes – eines der wesentlichen Dilemmas, mit dem sich die brasilianische Regierung konfrontiert sieht.
Schutzorganisationen sind in Alarmbereitschaft
Die Nichtregierungsorganisation Survival International, die sich global für die Rechte indigener Völker einsetzt, sieht in dem Gesetz den "schwerwiegendsten und bösartigsten Angriff auf die Rechte indigener Völker seit Jahrzehnten". Für alle, die dachten, dass mit Bolsonaros Niederlage auch seine Verbündeten aus der Agrarindustrie besiegt sind, sei dies ein sehr böser Weckruf gewesen.
Survival International befürchtet, PL490 könnte den gesetzlichen Schutz für indigenes Land aushebeln: "Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, ist das der Todesstoß für die indigenen Völker Brasiliens und die Gebiete mit großer biologischer Vielfalt, die sie im Amazonasgebiet und darüber hinaus schützen. Dieser Angriff darf nicht hingenommen werden."
"Wenn der Entwurf angenommen wird, werden wir eine Lähmung der Demarkationen erleben und mit Sicherheit Anträge auf Überprüfung von bereits demarkiertem Land stellen", erklärte die Rechtsberaterin des Indigenen Missionsrates (Cimi), Paloma Gomes, gegenüber Brasil de Fato.
Der Entwurf war vor allem von der Front für Landwirtschaft und Viehzucht (FPA) im Abgeordnetenhaus unterstützt worden – eine der größten politischen Interessenvertretungen. Diese parteiübergreifende Fraktion umfasst im Unterhaus und Senat 347 Abgeordnete und Senatoren, darunter der frühere Landwirtschaftsminister Ricardo Salles, Eduardo Bolsonaro und die militante Rechtsextreme Carla Zambelli. Unter den Senatoren finden sich Ex-Vizepräsident General Hamilton Mourão und Bolsonaros ältester Sohn Flávio.
Machtverhältnisse im Kongress machen Lula Regierungsarbeit schwer
Das ist die große und harte Opposition, die sich in der Zusammensetzung des am 4. Oktober gewählten Kongresses bereits abgezeichnet hatte. Schon damals war erkennbar, dass der rechtskonservative Flügel an Macht gewonnen hatte, während sich für den späteren Wahlsieger Lula keine natürliche Mehrheit abgezeichnet hatte.
Er kann nur mithilfe einer sehr großen und weit ins Lager der Mitte-Rechts-Parteien reichenden Koalition des sogenannten großen Zentrums, des Centrão, regieren, was seine Arbeit schwierig macht. Zudem muss Lula große finanzielle Zugeständnisse machen, um sich die Zentrumsparteien gefügig zu halten. Was diese aber wiederum nicht davon abzuhalten scheint, sich querzustellen und weiteres Geld etwa für deren politische Projekte zu fordern.
Zudem ist die Zahl der Abgeordneten, die die Agrarindustrie unterstützen und unternehmerfreundlich eingestellt sind, bei der Wahl im Oktober gestiegen. Für Sarah Shenker von Survival International kam das nicht überraschend. "Wir hatten schon nach der Wahl Lulas erwartet, dass er auf heftigen Widerstand stoßen würde, wenn es darum geht, die Verfassung aufrechtzuerhalten und indigene Gebiete für die ausschließliche Nutzung durch indigene Völker zu schützen."
PT-Abgeordneter sieht Gesetzesvorstoß als "verfassungswidrig"
Nilto Tatto von Lulas Arbeiterpartei PT und Sprecher der Gruppe der Umweltpolitiker im Kongress hält den Gesetzesvorstoß für verfassungswidrig. Das Recht der indigenen Völker auf ihre ausgewiesenen Gebiete sei so grundlegend wie das Recht auf Luft zum Atmen, erklärt er auf Anfrage. "Deshalb ist dieses Gesetz gegen die Verfassung."
Auch die PT und Präsident Lula seien gegen dieses Gesetz, versichert er. Doch durch die Zusammensetzung des Kongresses habe die Agrarlobby nach wie vor viel Macht, sodass Lula Probleme habe, diese Gesetzesinitiativen abzuwenden. Sollte demnächst der Senat zustimmen, würde das Gesetz auf Lulas Schreibtisch landen und er könnte ein Veto einlegen. Dann muss der Kongress erneut darüber befinden, ob er das Veto des Präsidenten anerkennt.
Sollte dies nicht der Fall sein, wäre dies ein zweiter herber Rückschlag nicht nur für die Regierung Lulas, sondern auch für den Indigenen- und Umweltschutz in Brasilien. Denn nachdem vor wenigen Wochen die Schutzbehörde Funai das Bohren nach Erdöl vor der Küste des Bundesstaats Amapá untersagt hatte, hatte der Kongress auf Betreiben der Oppositionskräfte als Reaktion – und auch als Zeichen seiner Macht – die Kompetenzen des Umweltministeriums massiv beschnitten.
Mit der Neuvergabe der Zuständigkeit – weg vom Indigenen-Ministerium hin zum Justizministerium – würden erneut die Kompetenzen einer Ministerin beschnitten, deren Arbeit gerade von der internationalen Öffentlichkeit intensiv verfolgt wird.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit dem Abgeordneten Nilto Tallo
- Gespräch mit Sarah Shenker von Survival International
- gov.br: Entenda as leis que promovem o desmonte dos Ministérios dos Povos Indígenas e do Meio Ambiente
- estadao.com.br: O que está em jogo na votação do PL 490 do marco temporal das terras indígenas; entenda
- survivalinternational.de: Survival Statement zur Abstimmung im brasilianischen Kongress über PL490
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