Nach dem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Sachsen-Anhalt warnen Politiker vor immer mehr Übergriffen auf Flüchtlinge in ganz Deutschland. "Tröglitz ist überall", sagte Reiner Haseloff – aber liegt der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt damit richtig? Der Faktencheck zeigt: Die Zahlen sind alarmierend.

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Erst wurde der Bürgermeister bedroht und trat zurück, nun zündeten Brandstifter ein Wohnhaus an, in dem ab Mai 40 Flüchtlinge leben sollten: In den vergangenen Wochen rückten mutmaßliche Rechtsextremisten mit ihren Taten das kleine Dorf Tröglitz in Sachsen-Anhalt in den Fokus der Bundespolitik. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), hat keine Zweifel: "Tröglitz ist überall", sagte er der Zeitung "Die Welt".

Haseloff ist überzeugt: "Die Zahl der Übergriffe steigt im gesamten Bundesgebiet deutlich an." Ähnlich äußerten sich auch andere Politiker. "Was heute in Tröglitz geschieht, kann morgen anderswo passieren", sagte etwa Wolfgang Bosbach (CDU), der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, der "Passauer Neuen Presse". Aber treffen diese Aussagen auch zu? Ist Tröglitz tatsächlich überall?

Drei Mal so viele Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte

Ein Blick auf die Statistiken offenbart, dass Haseloffs Warnung keinesfalls aus der Luft gegriffen ist. Denn die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte ist alarmierend – und in den vergangenen Jahren massiv angestiegen.

Allein 2014 verdreifachten sich die Angriffe, berichtete zuletzt der "Tagesspiegel" und zitierte dabei aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken. Demnach habe es 2014 rund 150 Angriffe gegeben, davon alleine im vierten Quartal 67. Im Jahr zuvor wurden hingegen nur 58 Attacken gezählt, 2012 nur 24 – auch hier hatte sich die Anzahl also bereits verdoppelt.

Diese Angaben decken sich mit den Zahlen, die die Amadeu Antonio Stiftung zusammen mit Pro Asyl zusammenstellt. Auch sie zählen für 2014 insgesamt 153 gewalttätige Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter 35 Brandstiftungen. Außerdem dokumentierten die Organisationen, dass Flüchtlinge in 77 Fällen tätlich angegriffen wurden. "Asylsuchende werden deutschlandweit derzeit zur Zielscheibe rassistischer und rechter Hetze", erklären die Organisationen.

Angriffe in jedem Bundesland – aber mehrere Schwerpunkte

Dabei fällt auf: "Es gibt kein Bundesland ohne Übergriffe", sagt Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung. Und er weiß auch: "Drohungen wie gegen den Tröglitzer Bürgermeister sind kein Einzelfall." Zugleich heben die Statistiken einzelne Bundesländer jedoch als Schwerpunkte hervor. Auf dem ersten Platz liegt demnach Sachsen mit 22 Sachbeschädigungen, danach Bayern mit 18 und Nordrhein-Westfalen mit 16. Bei den Körperverletzungen bleibt Sachsen als einziges Bundesland zweistellig mit 25 Vorfällen.

Beispiele für Übergriffe in den vergangenen Wochen und Monaten lassen sich in der ganzen Bundesrepublik finden. Im Dezember 2014 werfen Unbekannte mehrere Brandsätze in eine noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft im bayerischen Vorra. Auf ein weiteres Gebäude sprühen sie Neonazi-Parolen und Hakenkreuze.

Im Februar fliegt ein brennender Benzinkanister in ein leeres Haus in Escheburg in Schleswig-Holstein, das für Flüchtlinge gedacht war. Hinzu kommen etwa Angriffe mit Schlagstöcken oder Fackelzüge vor Flüchtlingsheimen, beides geschehen in Nordrhein-Westfalen in Wassenberg und Dortmund.

Rechtsextreme versuchen lokal Stimmung zu machen

So unterschiedlich die Bundesländer in ihrer Bevölkerungsstruktur und dem Anteil an Migranten sind, so schwer fällt auch eine einheitliche Erklärung. Lüdecke erkennt jedoch Tendenzen: "Die Zahl der Angriffe hat viel mit den Strukturen vor Ort zu tun. Sind rechtsextreme Kräfte dort stark, können sie Themen leichter instrumentalisieren, um die Stimmung anzuheizen", sagt er. Das zeige sich zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo Rechtsextreme etwa in Dortmund oder Hamm stark vertreten sind.

In ihrer Anfrage warnen die Linken denn auch vor der "extremen Rechten" und der NPD: "Immer wieder versuchen diese, Ressentiments und Vorurteile gegen Flüchtlinge zu schüren, Proteste gegen geplante Unterkünfte zu initiieren oder vorhandene Proteste in ihrem Sinne zu instrumentalisieren."

Um das zu verhindern, hofft Lüdecke insbesondere auf klare Zeichen aus der Politik. "Wir sehen gute Ansätze. Aber die Politik sollte sich noch viel deutlicher zu den Flüchtlingen bekennen – und das nicht erst nach einem Brandanschlag oder nach einer Hetzkampagne." Dafür sei es auch nötig, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und die Menschen in den jeweiligen Orten rechtzeitig über alle geplanten Schritte zu informieren.

"Obwohl seit Jahren klar ist, dass die Zahl der Flüchtlinge ansteigt, wurde zu spät darauf reagiert. Es ist wichtig, die Bevölkerung früh mitzunehmen, um Rechtsextremisten den Boden zu entziehen", sagt Lüdecke. Damit am Ende vielleicht ein Satz steht: Tröglitz ist nicht mehr überall.

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