• Im ARD-Sommerinterview stellt sich Annalena Baerbock den Fragen von Tina Hassel.
  • Die hat keine Angst, die Klimakrise zum Hauptthema ihres Interviews zu machen – auch wenn die Grünen damit punkten könnten.
  • Ein durchweg gelungenes Gespräch war es dennoch nicht, weil die Reihenfolge der Fragen nicht stimmte.
Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Deutschland und die Welt stehen vor gewaltigen Herausforderung: Klimakatastrophe, Verlust der Artenvielfalt, Ressourcenknappheit – die Liste der Krisen, durch die der Mensch an seinen Lebensgrundlagen baggert, ist lang. Wenn in einem Land wie Deutschland mit seinem großen Einfluss gewählt wird, sind daher in einem Interview mit den Spitzenkandidaten zwei Dinge umso wichtiger: Welche Fragen wählt der Interviewer aus und was antwortet der Gefragte darauf?

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Im Sommerinterview mit der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, beginnt Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, mit den im Verhältnis zu den globalen Krisen eher kleinen Fragen. Zum Beispiel der nach Baerbocks Fehlern. Ob sie sich angesichts der aktuellen Umfragewerte noch als Kanzlerkandidatin sehe, will Hassel wissen. "Für mich ist wichtig: Wenn man Fehler macht, daraus auch zu lernen und zu sagen: Was ist falsch gelaufen, was machen wir in Zukunft besser? Aber nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Wir sehen ja gerade, wie dringlich viele große Aufgaben im Land angegangen werden müssen. Dass wir mit dieser Haltung 'Wir machen einfach weiter wie bisher' nicht weiterkommen", antwortet Baerbock.

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In der Art und Weise, wie sie diese Erneuerung gestalten will, setzt Baerbock auf Gemeinsamkeit: "Es geht also auch darum, eine andere Art von Politik im KanzlerInnenamt zu machen." Tina Hassel will, bevor sie zu Inhalten kommt, erst noch einmal die Runde über persönliche Befindlichkeiten drehen und fragt Baerbock nach ihrer Meinung zum beliebteren Robert Habeck und ob sie ihm im Falle einer Regierungsbeteiligung einen "Erstzugriff bei den Ministerien" überlassen würde. Eine klassische Interviewfrage vor Wahlen, deren Relevanz aber zumindest zweifelhaft ist, was auch Baerbock thematisiert: "Es geht für uns nicht um Ministerien." Für sie und Robert Habeck sei wichtig, dass "wir nicht weitermachen wie bisher, wo einzelne Ministerien gegeneinander arbeiten. So können wir die großen Fragen unserer Zeit nicht angehen", erklärt Baerbock und verweist auf die Beispiele Afghanistan und die Klimakrise.

Tina Hassel scheint aber trotz der Erklärung, warum es für Baerbock vor einer Wahl Wichtigeres gibt, als Ministerien aufzuteilen, zu einem ganz anderen Schluss zu kommen: "Dann halten wir jetzt einfach fest: Darauf wollen sie jetzt nicht antworten", beendet Hassel die Frage, als habe sie überhaupt kein Interesse daran, welche Antwort ihre Interviewpartnerin gibt. Immerhin will sie nun, nach einem Viertel der Interviewzeit, über Inhalte reden, zuerst über Afghanistan. Ob der Außenminister und die Verteidigungsministerin angesichts der dortigen Lage zurücktreten oder "zumindest nicht mehr der kommenden Regierung angehören" sollen, will Hassel von Baerbock wissen.

Auch hier gehe es Baerbock nicht um die Besetzung von Ministerposten. Sie beschreibt aus emotionaler Sicht die dortige Situation und kommt zu dem Schluss, dass es jetzt darum gehe, "die volle Kraft von allen, Regierung und Opposition, darauf zu lenken, Menschen sicher zum Flughafen zu bringen, auszufliegen, weil es geht hier um jedes einzelne Menschenleben." Zur eigentlichen Frage nach den Rücktritten sagt Baerbock: "Wir müssen das aufarbeiten. Und zwar mit einem Untersuchungsausschuss für die nächste Bundesregierung, ganz unabhängig davon, wer dann wie die Regierung anführt." Für die unmittelbare Zukunft fordert Baerbock eine Afghanistankonferenz, zu der auch Russland, China und die Anrainerstaaten eingeladen werden müssten.

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Ein gutes Sommerinterview? Jein

Bei der größten Herausforderung, der Klimakrise, will Hassel wissen, warum die Grünen den "Klimapass" aus dem Wahlprogramm genommen haben, "also im Grunde das Bleiberecht für Menschen, die flüchten müssen, weil ihre Staaten wegen des Klimawandels überhaupt nicht mehr bewohnbar sind", wie es Hassel formuliert. "Weil wir ein Wahlprogramm geschrieben haben für die nächsten vier Jahre", erklärt Baerbock. Neben dem Wahlprogramm gebe es aber viele weitere Forderungen der Grünen, die auch die Frage berücksichtigen "Was passiert eigentlich mit den Ländern, vor allen kleinen Inselstaaten, wo klar ist: Wenn wir so weitermachen, (…) dann werden ihre Inseln im Meer untergehen." Deshalb müsse man sich Gedanken machen, wo diese Menschen in Zukunft wohnen können. Jetzt, vor der Bundestagswahl, sei die entscheidende Aufgabe aber, "hier in Deutschland Klimaschutz zu machen."

"Haben die Grünen vor dieser Wahl Angst, konkret zu werden?", fragt Hassel bei Maßnahmen zum Klimaschutz nach, weil zentrale Forderungen der Grünen für Hassel im Wahlprogramm "weichgespülter" seien, zum Beispiel beim CO2-Preis. Hier erklärt Baerbock: "Nein, ganz im Gegenteil. Es geht jetzt ums Machen", meint Baerbock und wendet sich dann direkt an die Zuschauer: "Menschen, Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, können sich entscheiden: Wollen wir weitermachen wie bisher? So tun, als geht uns die Klimakrise nichts an? Wir erleben das, wir haben Sturzfluten im Land. Oder stellen wir jetzt die Weichen dafür, was getan werden muss."

Natürlich sind knapp 25 Minuten wenig Zeit, um in die Tiefe zu gehen, aber Tina Hassel hat dennoch die wichtigsten Aufgaben einer Journalistin erfüllt. War es also ein gutes Interview? Jein. Hassel hat unbequeme Fragen gestellt, hartnäckig nachgefragt und ist auf Baerbocks Fehler eingegangen. Aber sie hat Baerbock in diesen 25 Minuten auch ganze 17-mal unterbrochen und das nicht, weil Baerbock nicht immer auf ihre Fragen geantwortet hätte. Aber man muss die Antworten auch hören wollen. Und wenn man sie als Interviewerin nicht hören will, dann sollte man wenigstens seinen Zuschauern die Chance dazu geben. Dazu braucht es aber die Flexibilität, nicht einen Fragenkatalog abarbeiten zu wollen, sondern sich an den Antworten des Interviewpartners zu orientieren – oder der Dringlichkeit der Fragen.

Klimakrise: Wie sag ich’s meinen Kindern?

Dann hätte Hassel die wichtigste Frage vielleicht nicht erst kurz vor knapp gestellt: "Die kommende Regierung könnte die letzte sein, in der die Klimakatastrophe überhaupt noch abzumildern ist. Wie würden Sie das Ihren Kindern erklären, wenn durch die vermeidbaren Fehler Ihrer Mutter vielleicht die Grünen die Chance verspielt hätten, diese entscheidenden Weichen in der Regierung mit zu stellen?", fragt Hassel in der Sache richtig, aber dennoch mit eingeschränktem Blick. Schließlich hat Angela Merkel selbst erst vor wenigen Tagen zugegeben, dass während ihrer Kanzlerschaft beim Schutz der Menschen vor der Klimakrise "nicht ausreichend viel passiert" sei und man nun das Tempo anziehen müsse.

Es ist daher bedauerlich, dass diese Frage nach der Dimension der Klimakrise erst so kurz vor knapp gestellt wurde. Sie hätte dem Interview vielleicht eine ganz andere Richtung gegeben und so blieb Hassel keine Zeit, dies nach Baerbocks Antwort noch zu diskutieren. "Es geht bei der Wahl genau um die Frage, in welchem Zustand wollen wir unseren Kindern dieses Land hinterlassen? Und die Frage wird sein: Meine Kinder, aber ich glaube, Millionen Kinder von anderen Eltern, werden im Jahr 2040 zurückblicken und uns Erwachsenen dann die Frage stellen, entweder: Warum habt ihr nichts dagegen getan, dass wir heute in so einer Welt leben, dass wir im August nicht mehr rausgehen können, weil es viel zu heiß und zu gefährlich ist. Oder sie werden uns als Erwachsene fragen: Wie habt ihr es geschafft, diese Chance zu ergreifen, das Land zu erneuern?", antwortet Baerbock.

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