- Seit Monaten demonstrieren die Menschen im Iran gegen das islamische Regime.
- Dass die Sittenpolizei nun angeblich abgeschafft worden sein soll, sehen einige Beobachter als Erfolg der Protestbewegung.
- Doch Experten haben Zweifel daran und interpretieren den Schritt lediglich als Strategiewechsel Teherans.
Ein Erfolg der Demonstranten? Oder doch nur Augenwischerei des Regimes? Nach den Berichten über die Abschaffung der Sittenpolizei im Iran herrscht Skepsis, ob der Schritt tatsächliche Auswirkungen auf die Menschenrechtslage im Land hat. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnete die Auflösung etwa als "Ablenkungsmanöver" der Staatsführung in Tehera.
"Das Regime steht vor dem Zusammenbruch und versucht, sich mit Ablenkungsmanövern zu retten", sagte der im Iran geborene Djir-Sarai den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Die Mehrheit der Menschen kennt die Lügen der Führung und lässt sich nicht beirren" - die Menschen wollten die Abschaffung der Islamischen Republik, erklärte der Politiker.
Der iranische Generalstaatsanwalt Mohammed Dschafar Montaseri hatte am Samstag die Auflösung der Sittenpolizei bekannt gegeben. "Die Sittenpolizei wurde aufgelöst, aber die Justizbehörde wird sich weiterhin mit dieser gesellschaftlichen Herausforderung auseinandersetzen", zitierte die Tageszeitung "Shargh" Montaseri am Sonntag. Weitere Details zu den Umständen und der Umsetzung der Auflösung der Sittenpolizei gab es nicht.
Ein Etappensieg für die Freiheit? Kritiker sehen Ablenkungsmanöver
Die Auflösung wird von einigen Beobachtern als Geste gegenüber den Demonstrierenden gewertet, die seit Wochen überall im Land auf die Straße gehen. "Ein erster Erfolg für die vielen mutigen Frauen im Iran – und hoffentlich nicht der letzte" schrieb die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Doch viele Kritiker des Regimes im Iran zeigten sich hingegen nicht beeindruckt. Das Problem sei nicht die Sittenpolizei, sondern der Kopftuchzwang, zitiert die Nachrichtenagentur AFP einen iranischen, namentlich nicht genannten Aktivisten. "Frauen müssen überall ohne Kopftuch verkehren können", forderte er. Und dies sei "nur der erste Schritt."
Ähnlich sieht das der deutsch-iranische Politologe Ali Fatollah-Nejad. Der Iran habe die Sittenpolizei nicht abgeschafft, wie der Experte auf Twitter schreibt. Vielmehr handle es sich um eine "Beschwichtigungs- und Ablenkungstaktik des Regimes", die laut Fatollah-Nejad nicht als Zugeständnis an die Demonstranten verstanden werden dürfe.
Als Grund für diese Einschätzung gibt der Politologe unter anderem den Umstand an, dass es noch überhaupt keine rechtlich bindende Entscheidung zur Auflösung der Polizeisondereinheit gebe. Zudem sei die Pflicht für Frauen zum Tragen eines Hijabs "untrennbar" mit der Identität der islamischen Republik im Iran verbunden.
Dass die Abschaffung der Sittenpolizei ohne eine Aufhebung des vor über 40 Jahre verhängten Kopftuchzwangs für die iranischen Frauen sinnlos ist, sieht auch der Politologe Abbas Abdi. "Die Auflösung der Sittenpolizei war notwendig, reicht aber nicht aus, bis das Gesetz der obligatorischen Kleidervorschrift revidiert ist", schrieb er auf Twitter.
Fatollah-Nejad führt zudem weiter an, dass sich die Sicherheitskräfte im Land seit Mitte September im Dauereinsatz befinden würden. Sei seien erschöpft und die vermeintliche Abschaffung der Sittenpolizei "soll ihnen nun auch eine Verschnaufpause" ermöglichen und dazu beitragen "vorhandene Kapazitäten stärker auf die massive Repression" zu konzentrieren.
Er sieht deshalb kein wirkliches Ende der Sittenpolizei, sondern prognostiziert vielmehr einen Strategiewechsel des Regimes. Dieses könnte in Zukunft zum Beispiel verstärkt mit Programmen zur Gesichtserkennung und digitalisierten Bußgeldern arbeiten, "um die Einhaltung der Hijab-Vorschriften sicherzustellen".
Sittenpolizei war Auslöser der Proteste im Iran
Die Sittenpolizei, die sogenannte "Gascht-e Erschad" (Moralstreife), ist eine Sondereinheit der Polizei im Iran. Sie war unter dem ultrakonservativen Staatschef Mahmud Ahmadinedschad gegründet worden und sollte "die Kultur des Anstands und des Hidschabs verbreiten".
Seit 2006 kontrollierte sie unter anderem die Einhaltung der Kopftuchpflicht im Iran. Während sie unter dem Ex-Präsidenten Hassan Rohani (2013-2021) nicht aktiv waren, traten sie mit Präsident Ebrahim Raisi wieder in Erscheinung.
Die Kleinbusse der Sittenpolizei mit meist vier bis sechs männlichen und weiblichen Beamten waren auf fast allen Plätzen anzutreffen. Vor allem junge Frauen, deren Kopftuch und Outfit den Beamten zufolge nicht den islamischen Regeln entsprachen, wurden aufgefordert, ihr Äußeres zu korrigieren. Immer mehr und vor allem Frauen der jüngeren Generation jedoch wiesen ihre Warnungen zurück oder ignorierten diese.
Vor allem im Sommer begannen die Sittenwächter, Frauen und Männer, die sich ihren Anweisungen widersetzten, zu verhaften, um Exempel zu statuieren. Mitte September nahmen die islamischen Sittenwächter die 22-jährige Mahsa Amini in Haft, weil unter ihrem Kopftuch ein paar Haarsträhnen hervorgetreten sein sollen.
Amini starb wenige Tage später im Gewahrsam der Sittenpolizei. Seitdem protestieren im Iran Menschen gegen das System und dessen Gesetze und Vorschriften. Nach Beginn der Proteste waren noch einige Tage Sittenwächter auf den Straßen, doch nachdem sie mehrmals von den Menschen angepöbelt und auch angegriffen wurden, verschwanden sie aus den Stadtbildern.
Demonstranten rufen zu weiteren Protesten auf
Auch ob der vermeintlichen Abschaffung der Sittenpolizei reißen die Demonstrationen im Iran derweil nicht ab. Aktivisten riefen zu neuen landesweiten Protesten und Streiks auf. Die sogenannten 14-15-16-Proteste – die Zahlen sind das Datum im persischen Kalendermonat Azar - sollen von Montag bis Mittwoch dauern und insbesondere das islamische System wirtschaftlich treffen.
Daher wurden die iranischen Bürger auch aufgerufen, an diesen drei Tagen Einkäufe zu vermeiden, um so jegliche Geldzirkulation im iranischen Bankensystem zu verhindern. Besonders in den wirtschaftlichen Zentren wie Basars in Großstädten sollen möglichst viele Geschäfte geschlossen bleiben, so die Aktivisten. (thp/Mit Material von dpa und afp)
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