Der Überfall der Hamas am 7. Oktober hat die Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland weiter verschlechtert, das ist das Ergebnis einer Studie. Bianca Loy hat an der Erhebung mitgearbeitet. Im Interview spricht sie darüber, was das für die jüdische Community in Deutschland bedeutet.

Ein Interview

Seit 2018 dokumentiert der Bundesverband Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) antisemitische Vorfälle in Deutschland. Der neue Report für 2023 zeigt deutlich: Einen solchen Anstieg an offenem Antisemitismus hat es seit der Gründung der Dokumentationsstelle nicht gegeben.

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Was bedeutet der 7. Oktober für die jüdische Community in Deutschland?

Bianca Loy: Der 7. Oktober ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland eine Zäsur. Die antisemitischen Massaker und Terrorangriffe in Israel haben Menschen in Deutschland motiviert, sich antisemitisch zu äußern und so zu handeln – wir haben bereits am 7. Oktober Vorfälle verzeichnet, die unmittelbar auf den Terror der Hamas reagieren.

Zum Beispiel?

Die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden wurde geleugnet, relativiert und legitimiert. Das macht etwas mit Jüdinnen und Juden in Deutschland. Wir konnten außerdem feststellen, dass sie Antisemitismus vermehrt aus dem eigenen Umfeld erfahren haben. Am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen, in der Nachbarschaft und online. All das verschärft die Situation und wirkt sich auf die Sicherheitslage aus.

Was heißt das konkret?

Jüdinnen und Juden in Deutschland müssen noch stärker zwischen ihrer jüdischen Sichtbarkeit und der eigenen Sicherheit abwägen. Viele vermeiden, als jüdisch erkennbar zu sein oder auf der Straße Hebräisch zu sprechen.

Hat sich der Antisemitismus in Deutschland durch die andauernden Pro-Palästina-Demos weiter normalisiert?

Ja. Damit geht auch die Gefahr einher, dass Antisemitismus nicht mehr widersprochen wird und sich weiter normalisiert.

Häufig wird bemängelt, dass man die israelische Regierung kritisieren können muss, ohne als Antisemit bezeichnet zu werden. Wann fängt Antisemitismus an?

Wir arbeiten mit der Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA). Im Zusammenhang mit israelbezogenem Antisemitismus achten wir besonders darauf, ob es doppelte Standards, eine Dämonisierung oder auch Delegitimierung gibt.

Die Relativierung des Holocaust ist eine Ausprägung von israelbezogenem Antisemitismus auf Demonstrationen. © IMAGO images/Wolfgang Maria Weber

Was bedeutet das?

Im Zusammenhang mit dem 7. Oktober sehen wir vor allem Dämonisierungen und Delegitimierungen Israels. Häufig geht der israelbezogene Antisemitismus mit Post-Schoa-Antisemitismus, also beispielsweise der Relativierung der Schoa, einher.

Haben Sie ein Beispiel?

Die vielfach verwendete Parole "One genocide doesn't justify another". Also der Vorwurf, dass die Juden das, was ihnen die Deutschen im Nationalsozialismus angetan haben, nun mit den Palästinensern machen würden. Das ist Schoa-Relativierung und klar antisemitisch. Da gibt es wenig Interpretationsspielraum.

Die Anzahl antisemitischer Vorfälle ist im Gegensatz zu 2022 stark gestiegen, gab es einen solchen Anstieg bereits in der Vergangenheit?

Wir haben uns 2018 als Bundesverband RIAS gegründet und seither ist das für uns der höchste Stand, den wir dokumentiert haben.

Das heißt während der Corona-Pandemie, als antisemitische Verschwörungsmythen durch die Gegend gegeistert sind, war das Unsicherheitsgefühl nicht so groß wie heute?

Wir beschreiben Anlässe, die einen Rahmen bieten, sich antisemitisch zu äußern oder zu handeln als Gelegenheitsstrukturen – auch die Corona-Pandemie war eine solche. Während der Corona-Pandemie gab es ein langes antisemitisches Grundrauschen, dass sich auf Veranstaltungen Bahn gebrochen hat. Der 7. Oktober hat zu einem heftigeren Aufkommen antisemitischer Vorfälle geführt. Bis zum Jahresende bleiben die Vorfallzahlen auf hohem Niveau.

Wie meinen Sie das?

Zwei Drittel aller Gewaltvorfälle im Jahr 2023 haben sich nach dem 7. Oktober ereignet. Im Vergleich mit der Corona-Pandemie haben wir es mit einer quantitativ und qualitativ anderen Situation zu tun.

Bei einer Vielzahl der antisemitischen Vorfälle kann laut des Berichts die weltanschauliche Orientierung des Täters nicht definiert werden. Was bedeutet dieses Gemisch an Akteuren für die Sicherheit jüdischen Lebens?

Im aktuellen Bericht konnten wir 61 Prozent keinem politischen Hintergrund zuordnen. Für Jüdinnen und Juden bedeutet das, dass sie nicht abschätzen können, von wem Antisemitismus ausgeht. Das heißt: Sie können potenziell überall von jedem mit Antisemitismus konfrontiert werden. Das verstärkt die Verunsicherung.

Auf den umstrittenen pro-palästinensischen Demos sind zum Beispiel auch Linke, Anti-Imperialisten oder islamische Akteure vertreten.

Wir haben im vergangenen Jahr erstmals die meisten Vorfälle dem antiisraelischen Aktivismus zugeordnet. Darunter fassen wir zum Beispiel säkulare palästinensische Gruppen. Wir sehen, dass sie unheimlich stark mobilisieren können und unterschiedliche politische Spektren vereinen. Dazu gehören dann auch linke, anti-imperialistische oder islamische Akteure.

Seit dem 7. Oktober ist immer wieder die Parole "Nie wieder ist jetzt" zu hören und zu lesen. Tut die deutsche Öffentlichkeit genug, um Jüdinnen und Juden zu schützen?

Um es kurz zu machen: nein. Jüdinnen und Juden sind seit dem 7. Oktober mit dieser ausbleibenden Solidarität der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert und auch mit fehlender Empathie.

Über die Gesprächspartnerin

  • Bianca Loy hat Soziologie und Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie in Göttingen und Berlin studiert. Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Referentin bei RIAS.
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