Der Großbrand in einer Kirche wird zur Projektionsfläche für die Gefühle von Menschen in aller Welt. Was hat das Inferno von Notre-Dame im Herzen von Paris mit unseren Herzen gemacht? Warum berührte dieses Unglück auch Menschen, die Paris oder die Kathedrale noch nie betreten haben? Der renommierte Psychologe Dr. Wolfgang Schmidbauer gibt Antworten.

Ein Interview

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Die Brand-Katastrophe in der Pariser Kathedrale Notre-Dame hat weltweit Bestürzung ausgelöst. Viele Menschen verfolgten das Unglück live am Fernsehschirm, die Anteilnahme ist riesengroß. Was aus psychologischer Sicht hinter diesem Phänomen steckt, erklärt der bekannte Münchner Psychologe Dr. Wolfgang Schmidbauer.

Wer zu Ihnen auf die Internetseite kommt, stößt recht schnell auf eine Kolumne,
die sich mit Kirchen und deren Bauart beschäftigt. Sie stammt aus dem Sommer 2018 und ist mit "Auf dem Holzweg" überschrieben. Seit dem Brand in Notre-Dame erlangt sie erschreckende Aktualität. Ist Ihnen das aufgefallen?

Dr. Werner Schmidbauer: Ich bin Psychologe, aber ich habe mich immer für Architektur interessiert und gehe in einer unbekannten Stadt erst einmal in jede Kirche am Weg.

Von innen sehen Kirchen ja meist unzerstörbar aus - alles aus Stein. Aber wenn der hölzerne Dachstuhl brennt, halten Steine und Mörtel der Hitze nicht stand.

Besonders gefährlich sind bei historischen Bauten die Renovierungen. Die Sache mit dem "Holzweg" hatte aber einen anderen Anlass: Da ging es um eine moderne Kirche, die törichterweise mit Leimholz gebaut war.

Der Leim löste sich auf, die Kirche war einsturzgefährdet, während es beispielsweise in Norwegen Kirchen aus Holzkonstruktionen gibt, die viele hundert Jahre alt sind.

Wie haben Sie von dem Brand in Notre-Dame erfahren? Und was war Ihre erste Reaktion darauf?

Ich habe es am Morgen danach in der Zeitung gelesen und war sehr berührt.

Notre Dame war mein erstes Ziel, als ich als Student eine dieser asketischen Busreisen nach Paris machte. Die Kirche trägt nicht nur einen mütterlichen Namen, der Blick auf den Chor und die Strebepfeiler hat auch etwas von einer Glucke, die Paris beschützt.

Während des Feuers haben Millionen Menschen auf ein brennendes Bauwerk geschaut und dabei getrauert, geweint und gebetet, als sähen Sie einem Menschen beim Sterben zu. Was steckt für Sie dahinter?

Ich denke, dass Notre-Dame ein Bauwerk ist, zu dem die Bürger von Paris, ob nun gläubig oder nicht, eine emotionale Bindung haben.

Unser emotionales Repertoire ist begrenzt - wir reagieren auf alle Verluste ähnlich, mit Trauer und Schmerz.

Und vielleicht empfinden alle Menschen, die überhaupt Nachrichten verfolgen, besonders tief mit den gebeutelten Parisern, die ja auch schon früher mehr als andere Städte vom Terror getroffen wurden.

Es geht da nicht um die Kirche an sich, sondern um Mitgefühl mit den Menschen, die vor einem brennenden Dom stehen, in dem ihre Vorfahren und Verwandten getauft wurden und geheiratet haben.

Glauben Sie, dass dieses apokalyptisch anmutende Ereignis Notre-Dame als Pilgerstätte nur noch beliebter machen wird?

Ich denke, dass in 20 Jahren niemand mehr an den Brand denkt, weil solche Ereignisse heute sofort den Wunsch wecken, sie ungeschehen zu machen. Es ist ja auch sofort der Wiederaufbau projektiert worden.

Vor 400 Jahren hätten die Stadtväter sicher überlegt, Notre-Dame größer, schöner, moderner wieder aufzubauen; auch der Petersdom in Rom sah ja im Mittelalter ganz anders aus als heute. In der Gegenwart aber sind sich die Menschen einig, dass Notre-Dame genau so wiederhergestellt werden soll, wie es vor dem 15. April 2019 gewesen ist.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Der Campanile von San Marco in Venedig entstand im neunten Jahrhundert.

1902 wurden die Metallanker im Innern des Turmes entfernt, um einen Aufzug einzubauen. Als sich erste Risse zeigten, war es zu spät. Am 14. Juli stürzte der Turm ein.

Fotografien zeigen einen riesigen, kegelförmigen Haufen Schutt. Der Stadtrat von Venedig beschloss am Abend des Einsturzes einstimmig, den Campanile wieder aufzubauen, wie und wo er gewesen war.

Der Wiener Architekt Otto Wagner, der zwischen 1841 und 1918 lebte und ein führender Vertreter des Jugendstils war, plädierte vergebens für eine "moderne" Lösung.

Die Venezianer hatten 1912 ihren alten Campanile wieder, und kaum ein Tourist ist sich darüber im Klaren, dass vor San Marco ein Neubau steht.

Das Feuer in Notre-Dame zeigt, dass Trauer und gemeinsame Fassungslosigkeit, auch Ohnmacht ebenso verbinden wie gemeinsame Freude. Warum geht uns diese Zusammengehörigkeit aber im Alltag immer mehr verloren?

Menschen, die in den Nachrichten vorkommen, sind oft gefährlich oder destruktiv, weil friedliches, liebevolles Zusammenleben "langweilig" für Leser ist.

Aber in Wirklichkeit sind die meisten Menschen einfühlsam und haben ein Herz für das Unglück anderer - und in Situationen wie der aktuellen wird das auch einmal sehr deutlich.

Wir leben in unsicheren Zeiten, und daher ist es eine Erleichterung, wenn wenigstens ein Symbol dieser Sicherheit, die Kathedrale von Paris, möglichst schnell in alter Schönheit wiederhergestellt werden kann.

Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychotherapeut in München. Er ist Kolumnist des ZEIT-Magazins über "Die großen Fragen der Liebe".
Eines seiner Forschungsgebiete ist die "Dingpsychologie"; dazu gibt es von ihm ein Buch "Die Enzyklopädie der dummen Dinge", erschienen 2015 im oekom-Verlag, München.
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