Vor 30 Jahren verübte eine japanische Sekte einen Giftgas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn und erschütterte ein Land, das sich bis dahin für eines der sichersten der Welt gehalten hatte.
Die U-Bahn 711 T, die zwischen den Haltestellen Hibiya nahe dem Kaiserpalast und Hiyoshi im Südwesten Tokios verkehrt, ist an jenem Montagmorgen des 20. März 1995 nur halb voll. So beschreibt es der "Spiegel" in einem Bericht. Normalerweise stehen die Menschen in der Tokioter U-Bahn zur Rushhour hier dicht gedrängt. Doch weil es ein Brückentag ist, haben viele Angestellte frei – sonst hätte es wohl noch weit mehr Todesopfer geben können.
Der Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn vor nun 30 Jahren geht als einer der schlimmsten Terroranschläge in die Geschichte Japans ein und wird ein Trauma in der Bevölkerung hinterlassen, die ihr Land bis dahin für eines der sichersten der Welt gehalten hatte.
Anschlag in der Tokioter U-Bahn – Panik in den Abteilen
An der Station Naka-Meguro steigt an jenem Morgen gegen acht Uhr ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und Maske zu. Kurz bevor der Zug am nächsten Bahnhof hält, legt er ein kleines, in Zeitungspapier gewickeltes Plastikpäckchen auf den Boden. Mit der geschärften Spitze seines Regenschirms sticht er darauf ein – dann springt er aus der Bahn.
Aus dem Päckchen dringt eine Flüssigkeit, die sofort zu einem giftigen Nebel verdunstet: Es ist das tödliche Nervengas Sarin. Mehrere Passagiere fassen sich um Luft ringend an die Kehle, brechen mit Schaum vor dem Mund zusammen – Panik bricht aus. Die U-Bahn hält, Menschen drängen verzweifelt zum Ausgang.
Sarin: Das tödliche Nervengas
- Sarin ist ein geruch-, farb- und geschmackloses Nervengift, das in den 1930er-Jahren von deutschen Wissenschaftlern entwickelt wurde. Das Gift kann über die Atemwege und über die Haut aufgenommen werden und wirkt schon in geringen Mengen tödlich. Bereits eine Dosis von 0,07 Milligramm pro Liter Luft kann binnen einer Minute zum Tod führen. Die Symptome einer Vergiftung reichen von Sehstörungen und Muskelzuckungen über Atemnot und Krämpfe bis hin zu Erbrechen, Bewusstlosigkeit, Atemlähmung und Herzstillstand. Gegenmittel wirken nur bei sofortiger Verabreichung.
Szenen wie diese spielten sich zur gleichen Zeit auch an anderen Bahnhöfen ab: Die Notrufzentrale der Tokioter Feuerwehr registriert an jenem Montag Gasalarm an insgesamt 15 Stationen von drei zentralen U-Bahn-Linien, direkt unter dem Regierungsviertel der japanischen Hauptstadt.
13 Menschen sterben, nachdem sie das hochgiftige Nervengas Sarin eingeatmet haben oder damit in Kontakt gekommen sind. Tausende weitere werden verletzt - sie kämpfen auch Jahre später noch mit den physischen und psychischen Folgen des Anschlags.
Aum Shinrikyo: Die Sekte hinter dem Terroranschlag
Ein anonymer Hinweis bringt die Polizei schnell auf die Spur der Täter: Der Anschlag wurde von fünf Mitgliedern von Aum Shinri Kyo (Ōmu Shinrikyō) verübt, einer Sekte, die sich auf Japanisch "Erhabene Wahrheit" nennt.
Zwei Tage nach den Anschlägen finden die Ermittler bei landesweiten Razzien unzählige Kanister mit Chemikalien, die zur Herstellung von Sarin und anderen chemischen Waffen benötigt werden. Die Sekte hatte sich über Jahre militärisch aufgerüstet, um ihre Umsturzfantasien in die Tat umzusetzen. Fast 200 Mitglieder der Sekte werden in den folgenden Wochen verhaftet – darunter auch das geistige Oberhaupt der Sekte, Shoko Asahara.
Shoko Asahara: Der selbsternannte Guru

Der halbblinde Asahara gilt als Drahtzieher der Anschläge. Geboren 1955 als Chizuo Matsumoto, wurde er aufgrund seiner Behinderung von seiner Familie verstoßen. Seine Kindheit verbrachte er in einem Blindeninternat. Doch der Verstoßene hatte große Pläne.
Er träumte davon, an der elitären Tokio-Universität zu studieren und eines Tages Ministerpräsident von Japan zu werden. Als dieses Vorhaben scheiterte, eröffnete er 1977 in Tokio zunächst eine Praxis für Yoga und Naturheilkunde. Seinen Willen zur Macht verlor er nicht: Nach seiner angeblichen "Erleuchtung" gründete er die Sekte Aum Shinri Kyo.
Anfang der 1990er-Jahre, nach dem Platzen der japanischen Spekulationsblase, hatte Aum nach Informationen des "Spiegel" weltweit rund 50.000 Anhängerinnen und Anhänger, viele von ihnen junge und gebildete Menschen. In einer Gesellschaft, die stark auf materiellen Erfolg fixiert war, suchten sie nach einem höheren Sinn – und glaubten, ihn in Asaharas Lehren zu finden.
Asaharas Lehren: Zwischen Yoga und Weltherrschaft
Asaharas Glaubenslehre entsprach einer Mischung aus verschiedenen Weltreligionen, Yoga- und Diätvorschriften, gepaart mit Weltuntergangsfantasien aus Science-Fiction-Comics. Er soll von sich selbst nicht nur behauptet haben, mit purer Willensstärke den Ausbruch von Vulkanen verhindern zu können, sondern prophezeite für das Jahr 1995 auch den Weltuntergang.
Dieser sollte mit einem Krieg zwischen Japan und den USA beginnen – danach wollte er, Asahara, den japanischen Kaiserthron besteigen und die Geschicke der Welt selbst in die Hand nehmen. Nur wer im Sinne von Aum "erlöst" sei, werde den Weltuntergang überleben.
In Vorbereitung auf seinen Weltherrschaftsplan baute Asahara mit verschiedenen Läden, Geschäften und Restaurants ein regelrechtes Wirtschaftsimperium auf. Später fanden die Ermittler jede Menge Gold und umgerechnet rund zehn Millionen D-Mark in bar im Safe des selbsternannten Gurus.
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Er selbst soll mit seiner Frau und sechs Kindern in luxuriösen Verhältnissen gelebt haben, während er seinen Anhängerinnen und Anhängern nur eine kalte Mahlzeit pro Tag zugestand. Seine Jünger berichteten bei den späteren Prozessen von brutalen Initiationsriten, bei denen es auch Tote gegeben haben soll. Mit Drogen und Folter soll der Guru seine Anhängerschaft gefügig gemacht und als Loyalitätsbeweis auch Morde verlangt haben.
Unter ihm als "göttlichem Kaiser" bildete Asaharas eine Art Schattenkabinett, analog zu den Ministerien der japanischen Regierung. Sein "Wissenschaftsminister" Hideo Murai richtete eine eigene Waffen- und Giftgasproduktion im Aum-Hauptquartier am Fuße des heiligen Berges Fuji ein und rüstete die Sekte militärisch auf. Nur wer die Welt zerstört, könne sie retten, soll der Guru gepredigt haben.
Tokio war nicht der erste Anschlag der Aum-Sekte
Zum ersten Mal ins Visier der Behörden geriet Aum 1989, als der Rechtsanwalt Tsutsumi Sakamoto und seine Familie spurlos verschwanden. Sakamoto hatte zuvor ausstiegswillige Aum-Jünger vertreten und vehement vor den Praktiken der damals anerkannten Religionsgemeinschaft gewarnt. Hinweisen gingen die Behörden damals allerdings nur halbherzig nach.
Am 27. Juni 1994, rund neun Monate vor der Terrortat in Tokio, verübte die Sekte in der Stadt Matsumoto ihren ersten Giftgasanschlag mit Sarin. Sieben Menschen starben, 144 weitere wurden verletzt – doch Aum blieb von den Behörden zunächst weitgehend unbehelligt.
Das änderte sich erst Mitte März 1995. Als der Guru von bevorstehenden Razzien gegen seine Sekte erfuhr, beschleunigte er seine Umsturzpläne und verlegte den geplanten Anschlag in Tokio vor. Ursprünglich wollte Asaharas angeblich das Regierungsviertel von einem Hubschrauber aus mit dem Nervengas Sarin einnebeln. Stattdessen entschied er sich nun zum Angriff auf die U-Bahn.
Während des in der japanischen Rechtsgeschichte beispiellosen Prozessmarathons schwieg der angeklagte Guru weitgehend. Zehn Jahre sollte es dauern, bis der Oberste Gerichtshof unweit des Anschlagsortes 2006 das Urteil gegen Shoko Asahara und zwölf seiner Anhänger in letzter Instanz bestätigte: Wegen des Giftgasanschlags auf die U-Bahn in Tokio und weiterer Morde in insgesamt 27 Fällen wurden sie zum Tode verurteilt.
Am 6. Juli 2018 wurden Asahara und sechs Aum-Anhänger durch Erhängen hingerichtet, sechs weitere Sektenmitglieder wurden zwei Wochen später exekutiert. Japan ist eines der wenigen Industrieländer, das bis heute an der Todesstrafe festhält.
Die Aum-Sekte existiert bis heute
Trotz Protesten wurde die Sekte in Japan nie verboten. Seit 2000 nennt sie sich Aleph und existiert bis heute. 1999 entschuldigte sich die neue Führung laut eines Berichts der "BBC" offiziell für den Anschlag, distanzierte sich im Jahr 2000 von Guru Asahara und jeglicher Gewalt. Expertinnen und Experten bezweifeln jedoch eine echte Kehrtwende.
Die Journalistin Shoko Egawa, die wegen ihrer Aum-Kritik beinahe selbst Opfer der Sekte wurde, sagte 2005 dem "Guardian": "Sie haben sich nicht verändert. Sie glauben immer noch an Asaharas Lehren – eine Doktrin, die sogar Mord rechtfertigt." Bis heute soll die Gruppierung mit ihren rund 1.200 Anhänger unter ständiger Beobachtung der Polizei stehen.
Verwendete Quellen
- Spiegel.de: "Japan: Erhabene Wahrheit" (21. April 1996)
- BBC News: "Japan sect apologises for gas attack” (1. Dezember 1999)
- The Guardian: "Gas attack cult still inspires fear and loathing” (18. März 2005)