Das mysteriöse Verschwinden der Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi beschäftigt Italien seit 40 Jahren. Netflix machte ihre Geschichte mit der Serie "Vatican Girl" bekannt. Über einen Fall voller Hoffnungen und Enttäuschungen – und großes Misstrauen gegenüber Kirche und Staat.

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Davide, 54 Jahre alt, erinnert sich noch gut an jenen Tag vor 40 Jahren. Mit seinem Vater im Auto fährt der damals 15-Jährige die Viale del Muro torto entlang, vom Pincio hinunter zur Piazza del Popolo.

Auf den Mauern, die die Straße im Zentrum Roms säumen, sieht er das Gesicht des Mädchens zum ersten Mal. "Ihr Foto hing überall in der Stadt", sagt der Römer heute. Ein Mädchen mit dunklem Haar und großen Augen, weiß bekleidet, ein Band um die Stirn. Verschmitzt lächelt sie in die Kamera, offenbar fühlt sie sich gut. Darunter steht: "Scomparsa". Zu Deutsch: "Vermisst".

Emanuela Orlandi: Die Familie sieht sie nie wieder

Emanuela Orlandi war nur ein halbes Jahr älter als Davide, aber im Unterschied zu ihm war sie Bürgerin des Vatikans. Ihr Vater war Bediensteter am Heiligen Stuhl, die Familie lebte innerhalb der hohen Mauern. Am Abend des 22. Juni 1983 kehrt das Mädchen nicht vom Flötenunterricht heim. Von einer Telefonzelle ruft sie noch bei den Eltern an, um ihnen zu sagen, sie komme später. Die Familie sieht sie nie wieder.

Wenige Tage später melden sich vermeintliche Entführer bei der Familie und fordern, dass Ali Agca im Eintausch mit dem Mädchen freigelassen wird. Agca hatte zwei Jahre zuvor versucht, Papst Johannes Paul II. zu töten.

"Unsere Eltern waren immer besorgt, durchlöcherten uns mit Fragen", sagt Davide über jene Jahre. "Wir hatten keine freie Jugend. Wo bist du gewesen? Wann kommst du nach Hause? Gerade für Mädchen war das anstrengend."

Damals hatten Jugendliche keine Smartphones, regelmäßig müssen sie sich über Telefonzellen bei den Eltern melden. Nicht nur das Verschwinden von Emanuela beunruhigt die Eltern. In jenen Jahren gibt es viele Attentate und Entführungen in Italien, Banden bekriegen sich.

Gerade erst ebbt der linksextreme Terrorismus der 1970er-Jahre ab, an deren Höhepunkt die Entführung und Ermordung von Ex-Ministerpräsident Aldo Moro steht. Die Entführung von Emanuela, augenscheinlich ein ganz normales Mädchen, macht viele Römerinnen und Römer stutzig.

Gianfranco, 69 Jahre alt, sagt: "Wir rechneten in dieser Zeit einfach damit, dass etwas Größeres dahintersteckt." Seine Frau Palmira fügt hinzu: "Sie war doch eine normale Teenagerin. Und ich dachte, hinter den Mauern des Vatikans ist man sicher."

Angebliche Hinweise tauchen auf

Die Spur zu den Entführern versandet. Was folgt, ist ein unendlicher Strudel aus wilden Theorien, immer wieder mit handfesten Beweisen. Ausländische Nachrichtendienste, wie die Stasi, der KGB und die CIA, sollen beteiligt gewesen sein, die Mafia, ja schließlich auch der Vatikan selbst. Missbrauch durch einen Kurienbeamten steht im Raum.

Später ist von Sex-Partys von vatikanischen Wachmännern und Diplomaten die Rede. Dann taucht ein Dokument auf, das Zahlungen des Vatikans für ein Internat belegen soll, in dem Emanuela untergebracht war. Auf der Suche nach ihrer Leiche werden mehrere Gräber geöffnet, teilweise auf vatikanischem Gebiet. Nichts. Zweimal werden die Ermittlungen eingestellt. Seit Januar laufen sie erneut. Der Vatikan hat selbst ermittelt und soll Hand in Hand mit den Kollegen aus Rom arbeiten, die den Fall ebenfalls wieder aufgerollt haben.

Emanuelas Familie, vor allem ihr Bruder Pietro, verspricht sich davon viel. Pietro Orlandi hat sein Leben der Suche nach seiner Schwester gewidmet. Seite an Seite mit seiner Anwältin organisiert der über 60-Jährige Jahr für Jahr Mahnwachen und Demonstrationen und wendet sich an die Ermittler. "Ich habe nie gedacht, dass wir 40 Jahren ohne Wahrheit leben müssen", sagt er zuletzt noch der Nachrichtenagentur Ansa.

Jeden Tag hoffe er, die Wahrheit komme noch ans Licht. Tatsächlich kam zuletzt immer mehr Bewegung in den Fall: Der Senat diskutiert, ob es einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Emanuela Orlandi und Mirella Gregori soll. Mirella, damals ebenfalls 15 Jahre alt, war wenige Wochen vor Emanuela verschwunden. Einzelne Hinweise deuteten darauf hin, dass die Fälle zusammenhängen.

Demonstrationen für das "Vatican Girl"

Allerdings wurden Pietros Hoffnungen schnell gedämpft. Der vatikanische Staatsanwalt Alessandro Diddi nannte einen solchen Ausschuss eine "schädliche Einmischung" . Nachdem das Parlament zunächst einstimmig dafür gestimmt hatte, ist die zweite Kammer augenscheinlich unentschlossen. Die Entscheidung wird hinausgezögert. "Das zeigt leider, dass sie sich, anders als ich dachte, immer noch psychologisch dem Vatikan unterordnen. Das ist sehr traurig.", erklärte Pietro gegenüber der Nachrichtenagentur Adnkronos.

Am Sonntagvormittag versammeln sich Hunderte Menschen unweit der Engelsburg, um für die Enthüllung der Wahrheit rund um das "Vatican Girl" zu kämpfen. Und das bei 35 Grad Celsius. Menschen aus ganz Italien sind angereist, einige sogar aus dem Ausland. Auch in Deutschland gab es laut Facebook in der vergangenen Woche ein eigenes, kleines Gedenken.

Sie tragen Plakate mit Emanuelas Foto oder T-Shirts, auf die ihr Gesicht gedruckt ist. Antonia, 60, ist aus Udine im Norden Italiens angereist; sie erklärt, dass sie den Fall seit Jahren verfolge. "Emanuela hat ein Recht auf Gerechtigkeit, gemeinsam kämpfen wir hier um die Wahrheit", sagt sie. "Der Vatikan hat sich in der Sache oft taub gestellt, Pietro die Worte im Mund verdreht. Aber die Wahrheit wird ans Licht kommen."

Papst Franziskus weist Vorwürfe zurück

Zuletzt gab es starke Spannungen zwischen Pietro Orlandi und dem Heiligen Stuhl. In einer TV-Sendung hatte Orlandi über ein Tonband gesprochen, das ihm zugespielt wurde. Über einen Informanten wisse er, dass Wojtyla zum Zeitpunkt des Verschwindens seiner Schwester mehrfach mit polnischen Priestern nachts den Vatikan verlassen habe; "sicherlich nicht, um die Häuser segnen". Schmutzige Anschuldigungen gegen Papst Johannes Paul II.? Es folgte ein Sturm an Empörung, der Vatikan verurteilte diese Aussage zutiefst. Papst Franziskus verteidigte seinen Vor-Vorgänger gegen "beleidigende und unbegründete Unterstellungen".

Pietro wendet sich am Sonntag an seine Mitstreiter. "Emanuela hat eine Mutter, die seit 40 Jahren leidet", sagt er. Maria Orlandi ist heute 93 Jahre alt. Pietro hofft auf klare Worte von Papst Franziskus. "Ich hoffe, der Papst bekennt sich im Angelus-Gebet dazu, mit uns die Wahrheit erreichen zu wollen. Das wäre sehr positiv." In der Menge rufen viele nach "Gerechtigkeit" und fordern ein "Ende des Schweigens".

Gegen Mittag begibt sich die Gruppe auf den Peterplatz, wo der Papst um 12:00 Uhr wie immer das Angelus-Gebet hält. Erstmals gestattet der Vatikan, dass die Demonstrierenden den Petersplatz mit Plakaten betreten können; eigentlich ist so etwas verboten.

Nach seinem Gebet erinnert Papst Franziskus "an das Verschwinden von Emanuela Orlandi vor 40 Jahren". "Ich stehe der Familie bei, vor allem der Mutter, und bete für sie sowie für alle Familien, deren Kinder vermisst sind." Gegenüber dem Nachrichtenprogramm TG7 zeigt sich Emanuelas Bruder im Anschluss glücklich. "Das Tabu über Emanuela ist endlich gebrochen", sagt er. Ob sich das auch in konkreten Ergebnissen niederschlägt, wird sich zeigen.

Verwendete Quellen:

  • vaticanstate.va: Der kleinste Staat der Welt westlich des Tibers hat 453 Einwohner
  • ansa.it: Pietro Orlandi: "Mai avrei pensato di passare 40 anni senza verita'"
  • avvenire.it: Diddi al Senato: "La Commissione d'inchiesta ora sarebbe intromissione"
  • adnkronos.com: Pietro Orlandi: "Rinvii Commissione? Non buon segnale, sudditanza a Vaticano"
  • la7.it: Caso Emanuela Orlandi, l'audio shock su Papa Giovanni Paolo II
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