• In Großbritannien sind viele Corona-Regeln weggefallen – dabei steigen die Infektionszahlen seit Wochen stark an.
  • Mehr als 1.200 Expertinnen und Experten warnen in einem offenen Brief: Die Strategie der Regierung von Boris Johnson könnte eine ganze Generation von chronisch Kranken hinterlassen.
  • Die hohe Impfquote im Land bremst zumindest die Zahl der Todesfälle. Die Mehrheit der Erkrankten, die derzeit im Krankenhaus aufgenommen werden, sind ungeimpft.

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Widersprüchlicher könnten die Nachrichten aus Großbritannien kaum sein: Am Montag hat die Regierung von Premierminister Boris Johnson den "Freedom Day" ausgerufen. Für Clubs, Theater und Kinos gelten fast keine Corona-Beschränkungen mehr. Das Tragen von Masken ist ein freiwilliger Akt.

"Wenn nicht jetzt, wann dann?", sagte Johnson dazu in einer Pressekonferenz: Wenn das Virus im Herbst und Winter wieder auf dem Vormarsch sei, wären die Lockerungen wohl deutlich schwieriger.

Gleichzeitig warnte Johnson: "Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei." Er selbst hat das – mal wieder – am eigenen Leib erfahren: Da der Premierminister Kontakt zu seinem infizierten Gesundheitsminister hatte, befindet er sich bis zum 26. Juli in Selbstisolation. Zuvor hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, sich nicht an die Quarantäneregel zu halten.

So viele Infizierte wie seit Januar nicht mehr

Die Zahl der Neuinfektionen ist in den vergangenen Wochen exponentiell gestiegen. Am Mittwoch meldete die britische Regierung 44.104 neue Corona-Infektionen. In der Vorwoche lag die Zahl sogar über der 50.000er-Marke – der höchste Stand seit dem bisherigen Höhepunkt im Januar. Die Sieben-Tage-Inzidenz – also die Zahl der Infizierten pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen – ist in die Höhe geschossen: von 15,9 im Mai auf 489,3 am Mittwoch. Besonders betroffen sind London und der Norden Englands.

Wie in anderen Ländern infizieren sich derzeit vor allem Jüngere. Den stärksten Anstieg gab es dem nationalen Statistikbüro zufolge in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen. 99 Prozent der Neuinfektionen gehen laut Gesundheitsbehörde PHE inzwischen auf die hochansteckende Delta-Variante zurück.

Dabei rühmt sich das Königreich für seine Impfkampagne: Weil sich die Regierung schnell große Mengen Impfstoff sicherte, konnten die Briten früher mit der Immunisierung beginnen als die Europäische Union. Erfolgreich ist die Kampagne auch, weil sie viele Menschen erreicht. Während das Tempo in Deutschland bei einer Quote von 60 Prozent Erstgeimpften langsam nachlässt, haben in Großbritannien 68,3 Prozent der Bevölkerung die erste Dosis enthalten. 53,6 Prozent gelten als vollständig immunisiert.

Mehrheit der Krankenhaus-Patienten sind ungeimpft

Doch selbst diese hohe Impfquote reicht offenbar nicht, um das Virus aufzuhalten. 60 Prozent der Patientinnen und Patienten, die derzeit ins Krankenhaus eingewiesen werden, sind ungeimpft. Das teilte der Chefberater der britischen Regierung, Patrick Vallance, Anfang dieser Woche mit.

Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass 40 Prozent der Krankenhaus-Patienten eine oder zwei Impfungen erhalten haben. Vallance sieht darin aber keinen Grund, an der Wirksamkeit der Impfstoffe zu zweifeln: "Sie sind sehr, sehr effektiv, aber nicht zu 100 Prozent", wurde er von Medien zitiert.

Experten betonen: Immerhin sei es gelungen, mit den Impfungen die Verknüpfung zwischen Infektionszahlen, Hospitalisierungen und Todesfällen zu brechen.

In der Tat steigen die Zahlen der Krankenhaus-Einweisungen und Todesfälle nicht im gleichen Maß wie die Neuinfektionen. Am Dienstag gab die Johns-Hopkins-Universität für das Vereinigte Königreich 102 neue Todesfälle an. Der britischen Regierung zufolge sind in den vergangenen sieben Tagen 4.500 an COVID-19 erkrankte Menschen in Kliniken eingeliefert worden.

In beiden Fällen zeigen die Kurven leicht nach oben. Allerdings sind die Zahlen noch weit entfernt von den Zuständen im vergangenen Winter. Allein am 20. Januar verstarben 1.826 Briten an oder mit Corona.

"Freedom Day" als "gefährlich und voreilig" bezeichnet

Dass die Regierung die meisten Corona-Regeln aufhebt, stößt im Königreich trotzdem auf scharfe Kritik. Selbst Johnsons Berater halten es für unvermeidlich, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf mehr als 100.000 steigen wird. Keir Starmer, Chef der oppositionellen Labour-Partei, wirft der Regierung vor, Chaos zu verbreiten. Johnson habe nur Verachtung für das britische Volk übrig, sagte der Liberale Ed Davey, nachdem Johnson sich kurzzeitig geweigert hatte, in Quarantäne zu gehen.

Als "gefährlich und voreilig" wird der "Freedom Day" auch in einem offenen Brief an das Wissenschaftsmagazin "The Lancet" bezeichnet. Die Erklärung haben mehr als 1.200 Expertinnen und Experten unterzeichnet.

"Mit dieser Strategie riskiert man, eine Generation mit chronischen Gesundheitsproblemen und Einschränkungen zu hinterlassen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen könnten noch in Jahrzehnten zu spüren sein", heißt es in dem Brief. Zudem befürchten die Verfasser, dass die Strategie die Entwicklung neuer Virus-Varianten begünstigt, gegen die die aktuellen Impfstoffe weniger wirksam sein könnten.

Transparenzhinweis: Im sechsten Absatz haben wir den Satz korrigiert, in dem es um den Prozentsatz der Erstgeimpften geht. Tatsächlich bemisst sich in Großbritannien die Impfquote am Anteil der Geimpften der erwachsenen Bevölkerung, die Impfquote in Deutschland bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung.

Verwendete Quellen:

  • Coronavius.Data.gov.uk: UK summary
  • Independent: Boris Johnson and Rishi Sunak say they will self-isolate after exemption sparks outrage
  • Johns Hopkins University: Coronavirus Resource Center
  • John Snow Memorandum: The Declaration – Mass infection is not an option: We must do more to protect our young
  • Office for National Statistics: Coronavirus (COVID-19) latest insights
  • Twitter-Account von Boris Johnson
  • Twitter-Account von Sir Patrick Vallance
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