Das Verteidigungssystem des Körpers beschädigt bei Menschen mit Corona-Langzeitfolgen die eigenen Körperzellen. Das haben Forschende des Universitätsspitals Zürich herausgefunden und liefern damit wertvolle Hinweise für die Diagnose und Therapie von Long Covid.

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Nach einer Infektion mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 erholen sich die meisten Menschen rasch. Schätzungsweise jeder zwanzigste Infizierte jedoch entwickelt hartnäckige Symptome, die über Monate oder sogar Jahre andauern können. Das Krankheitsbild, Long Covid oder Post Covid genannt, kann Menschen jeden Alters treffen und nicht nur nach schweren Verläufen, sondern auch nach milden Covid-19-Erkrankungen auftreten.

Ein Team des Universitätsspitals Zürich hat jetzt wertvolle neue Daten geliefert, die die Diagnostik und auch die Therapie von Long Covid vorantreiben dürften. Die Schweizer veröffentlichten ihre Studienergebnisse am 19. Januar 2024 im Fachmagazin "Science".

Vielfältige Symptome, rätselhafte Ursache

Die Ausprägung und vermutlich auch die Ursachen von Long Covid sind vielfältig. Zu den häufigsten Beschwerden gehören Müdigkeit und Erschöpfung, kognitive Einschränkungen, Herz-Kreislauf-Symptome sowie Gerinnungsstörungen – insgesamt haben Betroffene mehr als 200 Symptome beschrieben, die alle Organe des Körpers betreffen können. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten hinter der Krankheit zum Beispiel anhaltende Entzündungsprozesse, Autoimmunreaktionen und/oder Viren oder Virusreste, die sich noch irgendwo im Körper befinden.

Insgesamt ist das Krankheitsbild noch immer rätselhaft. Zuverlässige diagnostische Kriterien fehlen, ebenso heilende Therapien für die weltweit schätzungsweise mehr als 65 Millionen betroffenen Menschen. Wichtig für die Diagnose wären charakteristische Blutwerte, also verlässliche Biomarker. Dies auch, um nachweisen zu können, dass die Symptome tatsächlich mit der zurückliegenden Corona-Infektion zusammenhängen und nicht nur zufällig in zeitlicher Nähe zur Covid-19-Erkrankung aufgetreten sind.

In jüngster Zeit haben sich Forscherteams in zahlreichen Untersuchungen auf die Suche nach solchen Long-Covid-Biomarkern gemacht und einige wichtige Ergebnisse erzielt. Die aktuelle Studie von Forschenden um Onur Boyman von der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich sticht nun aber heraus: "Die vorliegende Studie gehört sicher zu den umfang- und detailreichsten der Long-Covid-Forschung", sagt Rainer Kaiser vom Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung an der LMU München gegenüber dem Science Media Center (SMC).

Wie die Studie angelegt war

Das Team des Universitätsspitals Zürich begleitete rund ein Jahr lang 113 Covid-19-Patientinnen und -Patienten, die sich zwischen April 2020 und April 2021 in einem von vier verschiedenen Hospitälern rund um Zürich aufgehalten hatten. 37 von ihnen hatten einen schweren Verlauf. 40 Frauen und Männer hatten auch sechs Monate später noch Symptome, sie waren an Long Covid erkrankt.

Blutproben, die den Erkrankten zum Zeitpunkt der akuten Infektion und nach sechs Monaten abgenommen worden waren, untersuchten die Forschenden auf mehr als 6.500 verschiedene Proteine hin. Als Kontrolle dienten Serumproben von 39 gesunden Personen, die nicht an Covid-19 erkrankt waren.

Studie: Wie körpereigene Zellen zerstört werden

Nach Auswertung der Analysedaten zeigte sich bei den Long-Covid-Betroffenen ein charakteristisches Muster einiger Serumproteine, das sich deutlich von den Werten der gesunden Kontrollpersonen unterschied. Das eindeutigste Signal ist die Fehlregulation des sogenannten Komplementsystems – ein uraltes, angeborenes Verteidigungssystem des Körpers, das aus vielen Proteinbestandteilen besteht. Diese aktivieren sich kaskadenartig und tun sich zu Komplexen zusammen, wenn sich Erreger im Körper ausbreiten oder Entzündungen anlaufen.

Das Komplementsystem kann Erreger zerstören, bei einer Überaktivierung aber auch Körpergewebe schädigen. Im Blut der Betroffenen fanden sich molekulare Hinweise für anhaltende Gewebeverletzungen, obwohl das Coronavirus, das dem Organismus ursprünglich Schaden zugefügt hatte, sich längst nicht mehr im Körper vermehrte. "Bei Patientinnen und Patienten mit Long Covid kehrt das Komplementsystem nicht mehr in den Ruhezustand zurück, sondern bleibt aktiviert und schädigt auch gesunde Körperzellen", sagt Onur Boyman.

Zudem fanden die Forschenden vermehrt verklumpte Blutplättchen und andere Anzeichen einer gestörten Blutgerinnung. Weitere typische Auffälligkeiten waren erhöhte Antikörperwerte gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV) und gegen das Cytomegalievirus – beides sind Herpesviren, die normalerweise schlummernd im Körper überdauern. Unter gewissen Umständen aber, etwa bei einer heftigen Infektion mit anderen Erregern, können sie reaktiviert werden.

Biomarker weisen auf chronische Entzündung hin

Sowohl das Komplement- als auch das Gerinnungssystem würden in der Regel bei Entzündungen und Infektionen aktiviert, sagt die Infektiologin Maria Vehreschild vom Universitätsklinikum Frankfurt gegenüber dem SMC: "Dies bedeutet indirekt, dass die erhöhten Biomarker auf eine chronische Entzündungsreaktion hinweisen."

Die Ursachen der überschießenden Komplement-Aktivierung bei Long Covid seien durch die aktuelle Studie nicht abschließend geklärt, sagt Gabor Petzold vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Universitätsklinikum Bonn. Allerdings hätten die Forschenden Hinweise gefunden, dass eine Reaktivierung von Herpesviren dazu beitragen könnte: Wie zum Beispiel das Epstein-Barr-Virus, das möglicherweise an der Entstehung von Multipler Sklerose und dem chronischen Fatigue-Syndrom beteiligt sei, so Petzold.

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Hürden auf dem Weg zur praktischen Anwendung

Die Zürcher Forschenden sehen in ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung diagnostischer Methoden. Ihre Forschungen sollen zudem neue Behandlungsmöglichkeiten von Long Covid eröffnen, zum Beispiel mit antiviralen Medikamenten oder solchen Wirkstoffen, die die Komplement-Kaskade zügeln.

Die Begeisterung des Schweizer Teams können Fachkolleginnen und -Kollegen allerdings nicht uneingeschränkt teilen. "Ob sich hieraus neue therapeutische Konzepte ergeben, würde ich zunächst kritisch sehen", sagt Rainer Kaiser. Die identifizierten Proteine erfüllten im Körper essenzielle Funktionen, wie zum Beispiel die antibakterielle Infektabwehr (das Komplement) oder die Verhinderung von Blutungen.

Der Nachweis, dass die entdeckten Veränderungen tatsächlich ursächlich zu den klinischen Symptomen beitrügen, stehe noch aus. In Summe sei die Studie sicher interessant, weil sie ein besseres Verständnis der Krankheitsprozesse ermögliche und neue, insbesondere diagnostische Ansätze liefern könnte.

Doch bis zur praktischen Umsetzung müssten noch ein paar Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. "Die hier identifizierten Biomarker sind in Standardlaboren nicht etabliert", sagt Maria Vehreschild. Allerdings könnten die neuen Biomarker Hinweise geben, an welchen Stellen Medikamente ansetzen müssten, um die Immunreaktion wieder in den Griff zu bekommen, die bei Long Covid entgleist sei.

Long-Covid-Patientengruppe nicht repräsentativ

Einen weiteren entscheidenden Grund, warum die Studienergebnisse zwar interessant, aber noch lange nicht praxistauglich sind, liefert Gabor Petzold. Es sei eine äußerst ausgewählte Patientengruppe untersucht worden, die stationär behandelt werden musste. Vergleichsweise viele Personen darunter hatten schwere Akutverläufe von Covid-19. "Ob sich die hier veränderten Signalwege auch in Patienten finden, die einen milden Akutverlauf hatten, der von seiner Symptomatik vergleichbar mit einer einfachen Erkältung ist, ist aktuell unklar", so Petzold.

Auf einen weiteren Aspekt gehen die Schweizer Forscherinnen und Forscher leider überhaupt nicht ein: Inzwischen gilt als gesichert, dass es nicht nur verschiedene Auslöser von Long Covid/Post Covid gibt, sondern auch verschiedene Krankheitsvarianten. Bei manchen Betroffenen ist das Nervensystem stärker betroffen, bei anderen die Atmung, bei wieder anderen das Herz-Kreislauf-System.

Diese Vielfalt kann die Studie allein wegen ihres Umfangs nicht abbilden. "Die hier abgebildete und recht genau untersuchte Kohorte entspricht den Patienten, die von Anfang an einen schweren Verlauf der akuten Erkrankung haben", sagt Leo Nicolai, der als Kardiologe an der LMU München die Immunologie von Gefäßen erforscht.

Die Daten zeigten zwar einmal mehr, dass Covid-19 in gewisser Weise eine vaskuläre Erkrankung sei, also eine Erkrankung der Gefäße. Aber jetzt brauche es vor allem deutlich größer angelegte Studien: "40 Patienten mit Long Covid wie in dieser Studie sind zu wenig", sagt Nicolai. Um verlässliche Daten für dieses heterogene Krankheitsbild zu bekommen, benötigten wir eher Hunderte bis Tausende Patientinnen und Patienten, so der Kardiologe gegenüber dem SMC.

Verwendete Quellen

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