- Krisen sind in der Lebensmitte so typisch wie in keiner anderen Zeit.
- Das weiß aber kaum jemand, da so viele irreführende Klischees zur "Midlife Crisis" kursieren.
- Was diese Zeit so krisenanfällig macht - und wie man die große Chance darin entdeckt.
Der Mann in Lederjacke mit den schwarz gefärbten Haaren lässt den Motor seiner neuen Harley aufheulen: Solche Bilder hat man schnell im Kopf, wenn man von "Midlife Crisis" spricht. Sich aber darin wiedererkennen? Wohl eher nicht. Klischeehafte Vorstellungen führen dazu, dass die meisten eines gar nicht auf dem Schirm haben: Womöglich hat die eigene Unzufriedenheit tatsächlich mit dem "Midlife" zu tun. Denn Krisen in der Lebensmitte sind ganz normal. Ja, sogar eher die Regel als die Ausnahme.
Zufriedenheit in der Lebensmitte am Tiefpunkt
"Wir sprechen in der Wissenschaft nicht von 'der Midlife Crisis'", klärt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello im Gespräch mit unserer Redaktion auf. "Das ist unzutreffend, weil es nicht eine spezifisch umrissene Krise ist. Vielmehr handelt es sich um eine krisenanfällige Zeit: Zwischen 45 und 55 Jahren erleben wir eine Umbruchphase", sagt die emeritierte Professorin, die seit Jahrzehnten zur Lebensmitte forscht.
Solche großen Übergänge gebe es mehrere im Laufe eines Lebens: Pubertät etwa, Pensionierung, das "Late Life" – besonders stark gefordert seien wir aber in der Lebensmitte. "Das zeigt sich bei vielen Langzeitstudien zur Lebenszufriedenheit: Diese verläuft im Laufe eines Lebens wie eine u-förmige Kurve: Wir sind in jungen Jahren recht zufrieden, in späteren auch wieder – doch in der Lebensmitte erreicht das psychische Wohlbefinden einen Tiefpunkt." (Link direkt zur Grafik der Studie)
Hormone im Wandel, Verlust der Jugend
So individuell die Situationen Betroffener auch sein mögen: Die Gründe für die stark abnehmende Zufriedenheit lassen sich gut umreißen.
- Hormoneller Wandel: Bei der Frau sind es die Wechseljahre, das Ende der Fruchtbarkeit mit etwa 52, bei den Männern sinkt das Testosteron ab. "Die Veränderungen führen häufig zu Stimmungsschwankungen, verändern den Körper und machen zum Beispiel auch anfälliger für Krankheiten", sagt Perrig-Chiello.
- Äußerlichkeiten: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Aussehen eine große Rolle spielt, heutzutage noch befeuert durch soziale Medien: "Gesellschaftliche Schönheitsstandards erzeugen zunehmend Druck. Man ist noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung! Eine neue Identität zu finden, ist für viele eine große Herausforderung."
Platz im Leben neu finden und die Frage: "Was wäre gewesen, wenn …?"
Schon dieser körperliche Umbruch sorgt für Verunsicherung, das ist aber längst noch nicht alles: "Die meisten leiden in dieser Zeit unter Stress. In den mittleren Jahren sind die Burnout-Raten am höchsten und es ist die Zeit der meisten Scheidungen", weiß Perrig-Chiello. Sie nennt große Herausforderungen der Lebensmitte:
- Viele Rollen verändern sich: Das Windelwechseln liegt Jahre zurück, die Kinder brauchen einen aber weiterhin, manchmal auf sehr fordernde Weise. Während man noch mitten im Berufsleben steht, kümmern sich die meisten nun zunehmend um die eigenen Eltern: "Daraus ergibt sich eine schwierige ,Sandwich‘-Position – helfen nach oben und nach unten. Die meisten pflegenden Angehörigen sind in dieser Altersgruppe, die Herausforderungen sind riesig." Überforderung und Erschöpfung seien häufig die Folge, sagt Perrig-Chiello.
- Familie: Die Kinder - nun meist auf der Suche nach der eigenen Identität - nabeln sich zunehmend ab. "Die eigenen Eltern wiederum spiegeln einem, was Alter ist und sein kann, mit all den möglichen negativen Seiten". Hinzu kommt die Partnerschaft: Eltern merken jetzt häufig, wenn sie sich wegen der Kinder als Paar vernachlässigt haben. Nun ist Beziehungsarbeit gefragt.
- Bilanz ziehen in der Lebensmitte: "Das ist ein Klassiker – auch bei Menschen, die gar keine Krise haben. Aus dem Blick in die Vergangenheit und dem Blick in die Zukunft ergibt sich ein Spannungsfeld, schließlich rechnet man noch mit einigen weiteren Jahrzehnten und könnte die Weichen neu stellen." Sehr typisch sei der Abgleich mit der Realität: Welche Träume hatte man in der Jugend? Welche meiner Wünsche habe ich eigentlich realisiert?
- Sinnkrisen können die Folge sein: "Kompromisse im Leben sind unvermeidbar, nun aber werden sie von vielen als verpasste Chancen gewertet: Was wäre gewesen, wenn …?" Viele wollten noch einmal etwas verändern: "In Form von kleinen Korrekturen, manchmal auch in großen Brüchen. Vor allem, wenn das Gefühl stark ist: Es ist nicht mein Leben, ich wurde gelebt."
- Beruf: "Obwohl wir heute gute Chancen haben, 90 Jahre alt zu werden, gilt die Gruppe 45+ schon als Problemgruppe. Das ist fatal, und viele bekommen es im Job zu spüren", meint Perrig-Chiello. Hinzu komme – vor allem bei Männern – ein Hamsterrad-Gefühl: "Viele Studien weisen auf einen Rollenüberdruss hin: Ich habe immer alles gegeben – beruflich und familiär, ich will nicht mehr müssen müssen."
Unterschiede im Umgang mit den Herausforderungen beobachtet die Professorin unter anderem zwischen den Geschlechtern: Männer hätten den Vorteil, dass ihre grauen Schläfen als attraktiv gelten: "Bei Frauen ist das leider nicht so. Man kann sagen: Eine Frau, die älter wird, wird nach ihrem Aussehen beurteilt, ein Mann nach Funktion und Status."
Keine Schuldgefühle haben: "Krisen sind ganz normal"
Bei so vielen Herausforderungen müsste sich eigentlich jeder auf die Schulter klopfen: "Ganz schön viel, was ich da gerade zu meistern habe." Doch das Gegenteil ist der Fall: "Die meisten haben eher Schuldgefühle, wenn sie in der Lebensmitte kämpfen. Sie denken: Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, es könnte doch alles so schön sein jetzt, ich hätte eigentlich allen Grund zur Dankbarkeit." Perrig-Chiellos entscheidender Hinweis löst bei ihren Zuhörerinnen und Zuhörern grundsätzlich Erleichterung aus:
- "Es geht sehr vielen so wie Ihnen. Krisen in der Lebensmitte sind nichts Außergewöhnliches und kein Zeichen von Unfähigkeit oder Undankbarkeit."
Das zu wissen, sei für viele schon die erste Hilfe. "Den meisten ist nicht bewusst, dass sie gerade so enorme Umbrüche durchleben und Frust da keine ungewöhnliche Reaktion ist. Sie denken, sie fallen aus der Reihe."
Wie aus "Midlife Crisis"-Frust wieder Glück wird
Doch in diesen Herausforderungen stecke eine Chance. Krisen seien kein Zustand, den man einfach hinnehmen sollte: "Sie sind immer ein Zeichen, dass etwas verändert werden muss. Das ist das Geheimnis unseres Lebens: Wir müssen uns immer wieder neu definieren, neu erfinden – und zwar ganz besonders in der Lebensmitte."
Deshalb macht sie Mut: "Das Gefühl, dass etwas auf der Strecke geblieben ist, dass nicht alle Träume gelebt werden konnten und wir uns nach einem Erfolgserlebnis oder Highlights sehnen, lässt uns weniger kompromissbereit sein. Nach vielen Zugeständnissen kommt nun die Zeit, sich davon zu befreien". Sie spricht deswegen auch von einer Zeit der zunehmenden Kompromisslosigkeit. Richtige Brüche - wie das Klischee des unbescholtenen Vaters, der die Familie verlässt und sich nun aufs Motorrad schwingt - gebe es dabei selten: "So etwas passiert vor allem bei jenen, die bisher übergewissenhaft funktioniert haben. Sie brechen plötzlich aus dem Korsett all ihrer erdrückenden Rollen aus. Das ist aber die Ausnahme."
Typischer seien Korrekturen und überschaubare Neuanfänge, die wieder zum Glück führten. Die Chancen dafür stünden gut: "Ein Studium anzufangen etwa, ist in unseren Zeiten keine Ausnahme mehr. Vielleicht waren Ihre Kindheitsträume ja gar nicht so verwegen? Was könnten Sie davon noch nachholen? Viele suchen sich im mittleren Alter auch noch einmal ein ganz neues Hobby oder probieren etwas aus, das sie schon immer mal tun wollten." Andere versöhnten sich auch damit, dass sie eben nicht alles erreichen konnten im Leben.
Gewaltiger Unterschied: Das machen Frauen besser als Männer
Innehalten, in sich gehen, nicht nur geben, sondern zu sich selbst finden, um das zu entdecken, was einen glücklich macht: Dabei kann eine Auszeit helfen. Auch Gespräche sind laut Perrig-Chiello wichtig. Frauen sieht sie hier im Vorteil: "Sie tauschen sich viel intensiver über Privates mit anderen aus, der Unterschied zu Männern ist gewaltig. Schon bei Kindern zeigt sich, dass Mädchen sich besser mitteilen und Probleme weniger mit sich selbst ausmachen als Jungen."
Bei großer Belastung sollte man sich rechtzeitig Hilfe holen: "Das ist nicht nur ein Zeichen von Stärke, sondern auch schon die halbe Miete. Wer das tut, ist sich der Problematik nämlich schon bewusst." Nicht immer sei gleich eine Psychotherapie nötig, oft reiche auch schon ein Beratungsgespräch.
Wer offen sei und keine Angst vor Veränderungen habe, habe es auf jeden Fall leichter in der Lebensmitte. Auch auf das soziale Umfeld und sogenannte "Stabiliy Zones" komme es an: "Ob man also über etwas verfügt, das einem Halt gibt: Rückzugsorte, Familienmitglieder, Freunde, denen man sich anvertraut, Religion oder auch der Tennisclub."
Schöne Aussicht: Mit dem Alter kommt die Gelassenheit
Ein riesiger Vorteil ab der Lebensmitte: Den meisten wird immer egaler, was andere von ihnen denken. "Mir imponieren die vielen Menschen, die krisenerprobt ins Alter kommen", sagt Perrig-Chiello. "Heute tun Ältere wesentlich mehr für ihre Fitness und ein gepflegtes Äußeres, was wiederum ihrer Psyche guttut. Sie gewinnen aber auch innere Freiheit. Eine ältere Frau sagte einmal zu mir: ,Ich kümmere mich immer weniger um gesellschaftliche Standards, ich habe jetzt meine eigenen. Es ist mein Leben, und ich mache es so, wie ich will!‘"
Diese Einstellung, auch zu seinem Alter zu stehen, sei gar keine große Ausnahme. Das zeigt auch die Zufriedenheitskurve, die nach der Lebensmitte wieder nach oben schwingt: "Mit zunehmendem Alter kommt eine Art von Aussöhnung und Reife, eine Souveränität", erläutert die Psychologin und stellt in Aussicht: "Wir werden gelassener. Das ist doch sehr schön zu wissen und man kann sich darauf freuen."
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