• In den sozialen Medien werden immer wieder neue Wundermittel gegen das Coronavirus angepriesen.
  • Eines davon ist ein Nasenspray auf Algenbasis.
  • Der Hype zeigt, wie wichtig es sein kann, auch Ratschläge von medizinischen Fachleuten kritisch zu hinterfragen.

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Wer sich auf Social Media nach Tipps umhört, wie sich Menschen vor Corona schützen, stößt seit geraumer Zeit neben Hinweisen auf Masken auch auf ein weiteres Mittel: ein Nasenspray auf Algenbasis.

Viele finden offensichtlich die versprochene Wirkung einleuchtend: Der Inhaltsstoff Carrageenan soll sich wie ein Film auf die Nasenschleimhaut legen und so eine Infektion mit dem Virus verhindern. Der Anbieter hatte bis vor Kurzem mit dem Slogan "Die Maske in der Nase" geworben, musste nach einem Gerichtsurteil aber entsprechende Werbung zurückziehen.

Allerdings stützen sich die Nasenspray-Fans auf Twitter nicht nur auf die Werbung, sondern auch auf medizinische Fachleute. So raten eine Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene und ein Virologe der Universität Erlangen in einer Pressemitteilung der Bevölkerung dazu, das Nasenspray vorbeugend anzuwenden. Beide Empfehlungen sind schon etwas älter, aber das tut ihrer Popularität auf Social Media keinen Abbruch.

Vielleicht wäre das beim genaueren Hinsehen anders gewesen. Wie bei allen Experten-Empfehlungen lohnt es sich zu hinterfragen, auf welchen Daten die Empfehlung beruht und ob sich Hinweise auf eine übertriebene Darstellung finden. Schließlich ist es auch hilfreich, auf mögliche Interessenkonflikte zu achten. Und für alle diese Aspekte finden sich in diesem Fall deutliche Warnzeichen.

Wie gut sind die Daten?

Die Warnzeichen sind bereits in der Pressemitteilung der Universität Erlangen vom April 2021 sichtbar. Der Text fängt zwar sprachlich vorsichtig an mit "ersten Studienergebnissen" und "könnte … schützen" – dann geht es aber ziemlich steil weiter. Dazu trägt auch der zitierte Experte bei, der über die Ergebnisse einer argentinischen Studie berichtet. Auf mögliche Unsicherheiten in der Studienlage geht der Virologe aber nicht ein.

So führt er etwa nicht aus, warum er eine einzige mittelgroße Studie, die das Nasenspray drei Wochen lang getestet hat, zusammen mit Laborversuchen für eine "solide wissenschaftliche Begründung" hält. Im Kontrast zu dem deutlich vorsichtigeren Vorspann gibt es also schon in der Pressemitteilung offensichtliche Widersprüche, wie gut die Datenlage tatsächlich ist.

Und noch mehr Hinweise finden sich in der Veröffentlichung zu der Studie, die in der Pressemitteilung leider weder verlinkt noch genauer zitiert ist. Als die Pressemitteilung veröffentlicht wurde, war die Studie nur als Preprint verfügbar. Die Publikation hatte also noch keine Begutachtung bei einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift ("Peer Review") durchlaufen, was als Maßnahme zur Qualitätssicherung gilt. Das wird in der Pressemitteilung ebenfalls nicht thematisiert.

Schließlich scheint es in dem Preprint auch zahlreiche Ungereimtheiten zu geben. Darauf weist das Portal Medizin transparent hin, ein Anbieter unabhängiger Gesundheitsinformationen. Inzwischen ist die Studie auch in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift erschienen. Allerdings fallen im Vergleich von Preprint und Journal-Publikation weitere Unstimmigkeiten auf. Das spricht alles dafür, dass die Studie ein eher unsicherer Beleg für den Nutzen des Algen-Nasensprays ist.

Was bedeutet "80 Prozent Risikoreduktion"?

Fett hervorgehoben ist gleich zu Beginn der Pressemitteilung eine Kernbotschaft: "Risikoreduktion um 80 Prozent". Diese Zahl verstärkt auch ein Zitat des Virologen: "Ein Carragelose-haltiges Nasenspray bewirkt eine 80-prozentige relative Risikoreduktion für eine Infektion mit Sars-CoV-2". Das Wort "relative" hätte Leser und Leserinnen aufschrecken lassen können: Denn es deutet darauf hin, dass der Effekt des Nasensprays möglicherweise nicht so groß ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Der Hintergrund: In der Studie wurden die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt. Die eine Gruppe erhielt das Algen-Nasenspray, die andere ein Placebo-Nasenspray. Gezählt wurde, wie viele Personen in den beiden Gruppen an Covid-19 erkrankten. Um den Nutzen in Zahlen auszudrücken, gibt es in so einer Situation mehrere Möglichkeiten:

  • Man könnte vergleichen, um wie viel Prozent das Risiko für Covid-19 für die Anwender und Anwenderinnen des Nasensprays sinkt im Vergleich zu denen, die das Placebo-Spray bekommen. Im Statistik-Jargon heißt diese Größe "relative Risikoreduktion". Mathematisch werden dafür die Erkrankungshäufigkeiten in den beiden Gruppen durcheinander dividiert.
  • Es wäre allerdings auch möglich zu berechnen, wie vielen Menschen in absoluten Zahlen durch das Nasenspray eine Covid-Erkrankung erspart blieb. Im Statistik-Jargon heißt diese Größe "absolute Risikoreduktion". Mathematisch steckt dahinter die Differenz zwischen den Erkrankungshäufigkeiten in den beiden Gruppen.

Ein Blick in die veröffentlichte Zusammenfassung der Studie zeigt die Zahlen, die für diese Berechnungen nötig sind: In der Gruppe mit dem Algen-Nasenspray erkrankten während der Studie ein Prozent der Teilnehmenden an Covid-19, in der Gruppe mit dem Placebo-Nasenspray fünf Prozent.

Wenn man diese beiden Zahlen ins Verhältnis setzt: Mit dem Algen-Nasenspray lag die Erkrankungshäufigkeit nur bei 20 Prozent von dem in der Placebo-Gruppe (1 Prozent geteilt durch 5 Prozent). Oder wie es die Pressemitteilung ausgedrückt: Das Risiko sank relativ um 80 Prozent.

Für die Berechnung, wie vielen Teilnehmenden das Algen-Nasenspray eine Covid-Erkrankung erspart hat, ist aber die Differenz der Zahlen noch aussagekräftiger: Von 100 Personen mit dem Algen-Nasenspray erkrankte eine (also 1 %), von 100 Personen mit Placebo-Nasenspray erkrankten fünf (also 5 Prozent). Vier von 100 Personen sind wegen des Algen-Sprays nach dieser Rechnung also nicht erkrankt.

In der Pressemitteilung ist deutlich zu erkennen, dass nur die Zahl für die relative Risikoreduktion genannt wird. Hier lohnt es sich zu hinterfragen, wie viele Menschen in absoluten Zahlen tatsächlich dahinter stecken. Und "vier von hundert Personen erkranken weniger" klingt nach deutlich weniger als "80 Prozent Risikoreduktion".

Wer nahm an der Studie teil?

Eine weitere wichtige Frage: Lassen sich die Ergebnisse der Studie überhaupt auf die Menschen übertragen, für die die Empfehlung ausgesprochen wird?

Der Erlanger Virologe ist da recht großzügig und empfiehlt einen "breiten Einsatz" bei der "Allgemeinbevölkerung". Der Blick auf die wissenschaftliche Publikation zeigt aber: An der Studie nahm nur Krankenhauspersonal auf der Covid-Station teil: "hospital personnel dedicated to care of Covid-19 patients".

Die Ergebnisse zum Nutzen beziehen sich also auf Personen, die deutlich mehr Coronaviren ausgesetzt sind als die durchschnittliche Allgemeinbevölkerung. Wenn in diesem Hochrisiko-Setting schon während der Studie nur vier von hundert Teilnehmende von dem Algen-Nasenspray profitiert haben, dürften es in der Allgemeinbevölkerung wohl noch deutlich weniger sein.

In der Pressemitteilung fehlt der Hinweis darauf, dass an der Studie nur Krankenhauspersonal teilgenommen hat und dass es deshalb eher fraglich ist, ob der Nutzen für die Allgemeinbevölkerung in einer ähnlichen Größenordnung liegt.

Auf welchen Daten beruht die DGKH-Empfehlung?

Auch die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene aus dem April 2022 lohnt sich zu hinterfragen. Sie empfiehlt ebenfalls die breite Anwendung des Algen-Nasensprays für die Allgemeinbevölkerung als Schutz vor einer Corona-Infektion.

In der Begründung für die Empfehlung zur Vorbeugung verweist die DGKH außer auf Laborstudien auch auf Anwendungsstudien mit dem Algen-Nasenspray. Vermerkt ist zwar, dass sich diese Studien auf andere virale Erreger von Atemwegserkrankungen wie Erkältungen beziehen. Es wird allerdings nicht thematisiert, ob und inwieweit sich diese Erkenntnisse 1:1 auch auf Infektionen mit Sars-CoV-2 übertragen lassen.

Laut DGKH handelt es sich bei den Untersuchungen um drei Studien mit mehr als 600 Teilnehmenden. Der Blick ins Literaturverzeichnis verwirrt aber: Bei der angeführten Referenz Nummer 49 handelt es sich um eine Zusammenfassung von zwei, nicht wie von der DGKH angeführt drei Studien. Ist die [49] nur ein Tippfehler und eigentlich eine ganz andere Referenz gemeint? Das bleibt offen. Fest steht jedoch, dass die als Beleg angeführte Referenz nicht mit der Beschreibung übereinstimmt.

Noch mehr Fragezeichen stellen sich beim Blick auf die Kurzfassung der Referenz 49: Dort ist davon die Rede, dass die Studien die Behandlung, nicht die Vorbeugung von Erkältungen untersuchen. Warum die DGKH Daten zur Behandlung von Erkältungen auf die Vorbeugung von Covid-19 überträgt, ohne das explizit zu diskutieren, bleibt offen.

Cui bono?

Noch interessanter wird es beim Blick auf die Informationen zu den Autoren der Referenz 49. Es stellt sich heraus: Drei von ihnen sind beim Anbieter des Nasensprays angestellt, was einen deutlichen Interessenkonflikt darstellt. Hat die DGKH das bedacht, wenn sie weitreichende Empfehlungen zur vorbeugenden Anwendung auf diese Referenz stützt?

Hinweise auf Interessenkonflikte gibt es auch in der Erlanger Pressemitteilung: Dort heißt es, dass der zitierte Experte mit dem Anbieter des Nasensprays in der Forschung zusammenarbeitet. Das kann möglicherweise die Einschätzung des Mittels verzerren.

Hype auch in vielen Medien

Übrigens haben auch einige Medienberichte ihr Übriges dazu getan, die Nachfrage nach dem Algen-Nasenspray anzuheizen. Viele davon stützten sich auf die Pressemitteilung der Universität Erlangen und haben zum Teil ziemlich tief in die Klischee-Kiste der Medizin-Berichterstattung gegriffen: Enthusiastisch war wahlweise von der "Geheimwaffe", dem "Durchbruch" und der "Sensation" die Rede.

In anderen Medienberichten war es nicht ganz so schlimm, allerdings suggerierte auch dort etwa der Verzicht auf den Konjunktiv in der Überschrift eine Sicherheit des Wissens, die tatsächlich nicht gegeben war und ist. Und selbst bei zurückhaltenderen Berichten haben die Journalisten die Pressemitteilung kaum kritisch hinterfragt.

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Was tun?

Das Beispiel des Algen-Nasensprays macht deutlich: Auch auf Empfehlungen von medizinischen Fachleuten sollte man sich nicht blind verlassen. Es lohnt sich nachzuvollziehen, auf welchen Daten die Empfehlungen basieren, und darauf zu achten, ob es Anzeichen für eine überzogene Darstellung und Hinweise auf Interessenkonflikte gibt. Auch zu euphorische Medienberichte sprechen eher für Hype statt einer echten Hoffnung.

Ohne medizinische Fachkenntnisse wird es oft schwierig sein, Studien im Detail zu prüfen. Wenn es allerdings schon zwischen der Empfehlung und dem dafür angeführten Beleg offensichtliche Unterschiede gibt, ist Vorsicht angesagt. Es lohnt sich auch, bei Anbietern unabhängiger Gesundheitsinformationen nach entsprechenden Informationen zu suchen und mit den Experten-Empfehlungen abzugleichen.

Verwendete Quellen:

  • Apotheke adhoc: Wegen Algovir-Aufsteller droht Ärger
  • Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene: Prävention von COVID-19 durch viruzides Gurgeln und viruziden Nasenspray – aktualisierte Fassung April 2022
  • Uniklinikum Erlangen: Nasenspray gegen COVID-19
  • MedRxiv: Efficacy of a nasal spray containing Iota-Carrageenan in the prophylaxis of COVID-
    19 in hospital personnel dedicated to patients care with COVID-19 disease (Preprint)
  • Medizin Transparent: Carrageen-Nasenspray: unbelegter Corona-Schutz
  • National Library of Medicine: Efficacy of a Nasal Spray Containing Iota-Carrageenan in the Postexposure Prophylaxis of COVID-19 in Hospital Personnel Dedicated to Patients Care with COVID-19 Disease
  • National Library of Medicine: Carrageenan nasal spray in virus confirmed common cold: individual patient data analysis of two randomized controlled trials
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
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