Ex-VW-Chef Herbert Diess benennt die Versäumnisse der deutschen Autoindustrie – und hat Rettungsvorschläge.
Herbert Diess sieht die deutsche Autoindustrie noch lange nicht am Ende – aber damit sie zu alter Stärke zurückfindet, müssen sich grundlegende Sachverhalte ändern. Was, das betont der Top-Manager in seiner aktuellen Kolumne in der Wirtschaftswoche. Wie schon öfter haben seine Aussagen das Potenzial zum Anecken.
Diess war von April 2018 bis August 2022 VW-Chef – und er hat immer noch einen wachsam kritischen Blick auf die deutsche Autoindustrie. Nach allgemeiner Wahrnehmung könnte es dieser aktuell besser gehen – Diess ist allerdings davon überzeugt, dass es den deutschen Autoherstellern immer noch sehr gut geht. Ihre jahrzehntelange Führungsrolle haben sie aber längst verloren. Können sie diese wieder zurückerobern? Diess ist überzeugt: auf jeden Fall. Hier die sechs Punkte seiner Erkenntnisse und seines Plans.
1. Lage aktuell
Deutschlands Hersteller Audi, BMW, Mercedes und Porsche haben jahrzehntelang den Premium-Automarkt dominiert. Die Gründe dafür waren die Konkurrenz der Top-Marken untereinander, ein exzellentes Zuliefer-Netzwerk, massive Unterstützung durch die Politik und die internationale Strahlkraft eines fehlenden absoluten Tempolimits. Hinzu kamen die deutschen Dienstwagen-Regelungen, die den Marktanteil an Premium-Fahrzeugen in Deutschland auf zirka 30 Prozent getrieben haben. Inzwischen steht die Industrie aber unter einem gewaltigen Druck – die Verbrennungsmotor-Technologie gilt als annähernd ausgereizt und die CO₂-Ziele sind nicht erfüllt.
2. Verschlafener Wandel und Führungsverlust
Diess stellt enttäuscht fest, dass Deutschland in Sachen Elektromobilität in doppelter Hinsicht hinterherhinkt. Sowohl emotional, also bei der Akzeptanz, als auch regulatorisch, also bei der Förderung, erkennt er Probleme. Und der Manager warnt: Deutschland hat seine Position als Leitmarkt an China verloren – bei Batterietechnologie, Skaleneffekten und Kosten sind die Chinesen vorn. Diess setzt nach: Die für 2030 auf dem chinesischen Markt gesetzten Ziele für NEV (New Energy Vehicles – Elektroautos und Plug-in-Hybride) wären bereits 2024 erfüllt gewesen.
3. Technologische Dominanz durch Huawei
In seiner Analyse ist Diess schonungslos: Der aus einem Smartphone-Hersteller gewachsene Autozulieferer Huawei ist bei Fahrzeug-Software und Elektronik europäischen Herstellern überlegen. BYD, einer der Marktführer bei E-Autos, sei den Herstellern aus Europa ebenfalls bei Innovationen und Effizienz voraus. Dem Hersteller attestiert Diess auch ein gutes eigenes Gesamtsystem, das aus Auto, Energie, Speicher und Photovoltaik besteht. Die technologische Vorherrschaft gilt auch für das vollautonome Fahren: In China fahren zehnmal mehr Robotaxis als bei Waymo in den USA. Hier rangiert Europa weit hinten. Immerhin hat VW angekündigt, 2026 zusammen mit Mobileye in Deutschland Robotaxi-Fahrten anzubieten.
4. Europa bei Akku-Herstellung schwach
Trotz hoher Investitionen hat Europa bisher keine eigene konkurrenzfähige Batterieproduktion auf die Beine gestellt – man sei abhängig von China. Diess kann sich auch eine künftige europäische Batterieproduktion nur in Kooperationen mit chinesischen Herstellern vorstellen.
5. Chancen und Stärken deutscher Hersteller
Die Wettbewerbsvorteile der deutschen Autoindustrie sieht Diess in langjährig gepflegten Modellreihen und einem dichten Servicenetz. Bei Fahrerassistenz, Verarbeitungsqualität und Bedienung seien die deutschen Hersteller nach wie vor top. Und im Gegensatz zu vielen Start-ups verdienen die heimischen Hersteller richtig Geld, wenn auch etwas weniger als noch vor ein paar Jahren. Aber mit diesen Einbußen müssen aktuell die meisten Hersteller leben. Und mit ihren Elektro-Modellen haben die Deutschen teilweise sogar führende Marktanteile, wie beispielsweise VW in Europa – freut sich der Ex-Chef, der die Transformation von VW zu einem E-Auto-Hersteller vorangetrieben hat.

6. Ausblick: Wieder Marktführer im Premium-Segment
Diess rät der neuen Bundesregierung dringend, dass sie die Premium-NEV-Industrie stärkt. Dazu gehören ein weiterer Ausbau der Lade-Infrastruktur, die Integration der batterieelektrischen Fahrzeuge ins Energiesystem und ein Ende der Dieselsubventionen. Nur so könne Deutschland wieder zu einem Leitmarkt für Premium-Fahrzeuge werden. © auto motor und sport