Eine Dekade nach ihrer Gründung ist die AfD so erfolgreich wie nie. Nicht trotz, sondern wegen ihrer Radikalisierung, glaubt der Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent. Ein Interview über den Höcke-Flügel, die Chancen eines Verbotsverfahrens und den AfD-Parteitag in Essen.

Ein Interview

In ihrer Anfangsphase wurde sie oft "Professorenpartei" genannt. Auffallend hoch war die Akademiker-Dichte in der 2013 gegründeten Alternative für Deutschland (AfD), an ihrer Spitze stand der Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke. Damals war das wichtigste Ziel der AfD der Ausstieg aus dem Euro.

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Elf Jahre später hat sich die Partei grundlegend verändert. "Heute ist die AfD deutlich radikaler als andere europäische Rechtsaußenparteien", sagt der Soziologe Matthias Quent im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal ist sich sicher: Ein Verbotsverfahren gegen die AfD wäre gerechtfertigt.

"Die AfD ist eine Partei der extremen Rechten": Matthias Quent, Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal © picture alliance / photothek/Florian Gaertner

Herr Quent, wie unterscheidet sich die heutige AfD von der AfD ihres Gründungsjahres 2013?

Matthias Quent: Zum einen ist die heutige AfD deutlich erfolgreicher. Sie ist flächendeckend in den Parlamenten angekommen, von der kommunalen bis zur europäischen Ebene. Zum anderen hat sie sich inhaltlich weiterentwickelt: von einer Krisenpartei im Kontext der Euro-Krise zu einer extrem nach rechts radikalisierten Kraft. Die AfD hat sich mehrmals gehäutet: durch die Migrationskrise 2015/16, die Coronapandemie, den Durchmarsch des rechtsextremen Flügels um den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke und eine Reihe an Abgängen von Parteivorsitzenden. Heute ist die AfD deutlich radikaler als andere europäische Rechtsaußenparteien. Während die Partei in Prognosen enorme Zuwächse verzeichnet, wird sie vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet.

Ist die Partei Ihrer Meinung nach mittlerweile als Ganzes rechtsextrem?

Der Verfassungsschutz hat andere Kriterien als die Wissenschaft. Aber wenn wir die gesammelten Erkenntnisse der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung über die Merkmale rechtsextremer Parteien betrachten, lautet das Ergebnis: Ja, die AfD ist eine Partei der extremen Rechten.

Aus welchen Gründen?

Nicht jedes einzelne Mitglied und alles, was im Parteiprogramm steht, ist rechtsextrem. Aber die AfD ist eine rechtsextreme Partei, weil sie antiliberal ist und, wie auch der Verfassungsschutz sagt, gegen das Rechtsstaat-, das Demokratie- sowie das Menschenwürde-Prinzip verstößt. Im Vordergrund steht dabei das Ziel weitgehender Homogenität der Bevölkerung, welches mit der Verfassung unvereinbar ist. Hinzu kommt, dass unter AfD-Wählern rechtsextreme Einstellungen im Vergleich zu anderen Parteien überproportional vorhanden sind.

"Einem Verbotsverfahren räume ich gute Chancen ein."

Soziologe Matthias Quent

Parteien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen, können in Deutschland verboten werden. Sind bei der AfD die Voraussetzungen für ein Verbot erfüllt?

Eine Hürde für ein Verbot besteht darin, dass die Partei strategisch kommuniziert: In offiziellen Verlautbarungen wird viel weniger radikal gesprochen als beispielsweise in den sozialen Medien oder auf Parteitagen. Diese Doppelzüngigkeit macht die juristische Diskussion schwierig, weil ein Gericht natürlich auch Entlastendes heranziehen muss. Bei einem Verbotsverfahren müsste das Bundesverfassungsgericht herausarbeiten, was der eigentliche Kern der AfD ist – mehr und mehr genau dieses antiliberale, völkisch-nationalistische und damit rechtsextreme Profil, das ein Verbotsverfahren rechtfertigt.

Welche Chancen hätte ein solches Verfahren?

Es gäbe genug Anhaltspunkte, die AfD zu verbieten. Einem Verbotsverfahren räume ich daher basierend auf der Programmatik der AfD grundsätzlich gute Chancen ein. Aber ich bin kein Verfassungsrechtler.

Gibt es innerhalb der AfD noch eine Strömung, die nicht extremistisch ist?

Es gab früher einmal Versuche mit Organisationen wie der "Alternativen Mitte", dem Höcke-Kurs etwas entgegenzusetzen. Seit Jörg Meuthen 2022 als AfD-Vorsitzender ausschied, sehe ich organisierte Bestrebungen dieser Art aber nicht mehr, von einzelnen thematischen Konflikten einmal abgesehen. Bei allen inhaltlichen Divergenzen, die es in der Partei nach wie vor gibt, existiert heute keine nennenswerte Strömung mehr, die grundsätzlich dem Rechtsruck in der Partei etwas entgegensetzt.

Dennoch hat das äußerst rechte Lager im Zuge der Europawahl einen Dämpfer erhalten: Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD, wurde nicht in die EU-Delegation der Partei aufgenommen. Ist das ein rarer Sieg der verbliebenen gemäßigteren Kräfte?

Hier geht es nicht nur darum, wie weit rechts sich die Partei verordnet, sondern um die Richtungsfrage prorussisch oder transatlantisch. Das ist eine Spaltungslinie, die sich nicht nur durch die AfD zieht, sondern durch die gesamte europäische Rechte. Krah steht symbolisch für den sehr Russland-nahen Kurs der AfD, während sich etwa die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia pro-westlich positioniert. Diese "Melonisierung" ist vielen in der AfD aber zu soft.

"Vor dem Parteitag wird die AfD die Konflikte kleinhalten."

Soziologe Matthias Quent

Am Wochenende findet in Essen der AfD-Bundesparteitag statt. Welche weiteren parteiinternen Konflikte könnten dort eine Rolle spielen?

Vor den wichtigen Landtagswahlen in Ostdeutschland wird die Partei vermutlich versuchen, die Konflikte kleinzuhalten. Die AfD arbeitet darauf hin, im Osten mitzuregieren. Was ein Konfliktpunkt auf dem Parteitag werden könnte, ist der Umgang mit "Bündnis Sahra Wagenknecht". Die AfD hat Angst vor dieser neuen politischen Kraft, die aber womöglich durch die Ergebnisse der Europawahlen wieder etwas gemindert werden konnte.

Zusammen mit Fabian Virchow hat Matthias Quent einen neuen Sammelband über die AfD herausgegeben. © Piper Verlag

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch "Rechtsextrem, das neue Normal?", die Radikalisierung der AfD sei kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung ihres Erfolgskurses. Wieso ist das so?

Weil die AfD sich damit authentisch zur größtmöglichen Opposition erklären und ein rechtsextremes Potential in der Bevölkerung nicht nur mobilisieren, sondern durch Agitation vergrößern kann. Die Radikalisierung sichert ihr den Status einer maximalen Außenseiterposition. Sie ist dadurch in der bequemen Lage, selbst keine politische Verantwortung tragen zu müssen und die etablierten Parteien für alles, was schlecht läuft, verantwortlich machen zu können. Mit den Teilen der Bevölkerung, die sich, aus welchen Gründen auch immer, politisch nicht mehr vertreten fühlen, kann die AfD so ein emotionales Bündnis eingehen.

Andere europäische Rechtsaußenparteien schlagen den entgegengesetzten Weg ein. Die post-faschistische Giorgia Meloni ist in Italien mit einem pro-europäischen und pro-ukrainischen Kurs an die Macht gekommen. Muss sich die AfD entradikalisieren, wenn sie jemals mitregieren will?

So allgemein kann man das nicht sagen. In Österreich und den USA kann man das Gegenteil beobachten: Mit der FPÖ und den Republikanern hat man hier rechte Parteien, die trotz einer Radikalisierung gute Chancen haben, die nächste Regierung zu stellen. Es gibt also keine Garantie, dass ein moderaterer Kurs für die AfD erfolgversprechender ist. Die Bereitschaft anderer Parteien zu einer Koalition mit der AfD würde ohne einen Höcke-Flügel samt entsprechender Ausfälle aber wahrscheinlich zunehmen.

Sie warnen in Ihrem Buch davor, dass die anderen Parteien rechte Positionen, vor allem in der Migrationspolitik, übernehmen. Das stärke nur die AfD. Wie kommen Sie darauf?

Immer wenn Versprechungen gemacht werden, die man nicht einhalten kann, wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik. Im Zweifelsfall wählen die Leute dann doch lieber das "Original", das ist beim Thema Migration für viele die AfD. Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien greifen häufig echte Probleme auf, geben dann aber eine Antwort, die gegen Menschenrechte und Demokratie gerichtet ist. Im Gegensatz dazu müsste man den wahren Kern des Problems aufgreifen, dafür aber demokratische und menschenrechtsorientierte Lösungen finden. Ansonsten entsteht der Eindruck, die Brandmauer nach rechts sei eine rein machtpolitische Verunglimpfung der AfD und gar nicht inhaltlich begründet.

"Bildung schützt nachweislich vor Rechtsextremismus."

Soziologe Matthias Quent

Bei der Europawahl haben mit Linkspartei und Grünen die beiden Parteien die größten Stimmverluste erlitten, die beim Thema Migration am weitesten weg von der AfD sind. Spricht das nicht gegen Ihre These?

Hier muss man weitere Entwicklungen berücksichtigen, die die beiden Parteien betreffen. Die Linkspartei hatte immer ein sehr ambivalentes Wählerspektrum und hat mit dem Weggang von Sahra Wagenknecht einen ihrer Flügel verloren. Das gute Ergebnis der Grünen 2019 hatte viel mit der Klimaschutzbewegung zu tun, die damals auf einem Höhepunkt war. Seitdem hat sich die Stimmung durch Corona und die Kriege in der Ukraine und in Nahost geändert.

Aber?

Es ist richtig, dass diese Parteien – und das betrifft mit Blick auf die potenzielle Wählerschaft stärker noch die Linkspartei als die Grünen – es ganz offensichtlich nicht geschafft haben, in die AfD-Milieus hineinzuwirken und dort mit eigenen Lösungsangeboten für die Migrationsfrage anzudocken. Vor allem bei den Grünen und der AfD sind die Überschneidungen im Wählermilieu mit der AfD aber so gering, dass sie eigentlich nicht viel miteinander zu tun haben.

Sie schreiben, angesichts der AfD-Erfolge bestehe Anlass zu "dringendem Handeln". Was muss Ihrer Meinung nach getan werden?

Derzeit wird über Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich gesprochen. Wenn es aber eine Sache gibt, die nachweislich vor Rechtsextremismus schützt, dann ist das Bildung. Hilfreich wäre auch eine Verlagerung der Diskussion hin zu sozialen Fragen, etwa die Auswirkungen der Inflation, um die Themen der äußersten Rechten zu demobilisieren. Ein dritter Aspekt: Ich lebe in Ostdeutschland und nehme wahr, dass viele Leute, die sich hier gegen Rechtsextremismus engagieren, wegen dauernder Morddrohungen resignieren. Diese Menschen, die sich in schwierigen Regionen für Demokratie engagieren, müssen besser geschützt und unterstützt werden.

Über den Gesprächspartner

  • Matthias Quent wurde 1986 im thüringischen Arnstadt geboren. Er studierte Soziologie, Politik und Geschichte im englischen Leicester sowie an der Universität Jena, wo er 2016 im Fach Soziologie promovierte. Seit Mai 2021 ist Quent Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er forscht über Rechtsextremismus, Terrorismus und die AfD. "Die Zeit" wählte in 2019 zu einem der 100 wichtigsten jungen Ostdeutschen. Im Juni dieses Jahres erschien der von Quent herausgegebene Sammelband "Rechtsextrem, das neue Normal? Die AfD zwischen Verbot und Machtübernahme" im Piper Verlag.
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